Montag, 27. Juli 2020

Marco Balzano: Ich bleibe hier


Leserunde auf WhatchaReadin

Wenn man den Reschenpass in Richtung Vinschgau überquert hat, erstreckt sich der Rechensee vor dem Betrachter und zwangsläufig fährt man an dem berühmten Glockenturm vorbei, der einst Teil des Dorfs Graun gewesen ist. Ein beliebtes Fotomotiv, vor dem die Touristen Schlange stehen. Auch Marco Bolzano war dort, wie er im Nachwort zu seinem Roman verrät:
"Hätte ich nicht sofort den Eindruck gehabt, hier eine private und persönliche Geschichte anzusiedeln, in der sich die historischen Abläufe spiegeln und die die Möglichkeit bot, ganz allgemein über Verantwortungslosigkeit, über Grenzen, über Machtmissbrauch und die Bedeutung des Wortes zu sprechen, dann hätte ich, trotz der Faszination, die dieser Ort auf mich ausübt, nicht genug Interesse aufgebracht... Auch ich wäre stehen geblieben und hätte mit offenem Mund den Kirchturm bestaunt, der auf dem Wasser zu schwimmen scheint." (S.284)

Balzano bettet die historischen Ereignisse Grauns von der Unterdrückung der Südtiroler durch Mussolini, der Option, die Hitler ihnen angeboten hat, "heim ins Reich" zu kommen sowie die Fertigstellung des Staudamms nach dem 2. Weltkrieg in die persönliche Geschichte der Lehrerin Trina ein, die aus der Ich-Perspektive erzählt und ihre Geschichte an ihre Tochter richtet, so dass das Erzählte wie ein langer Brief erscheint.

"Du weißt nichts über mich, und doch weißt du viel, weil du ja meine Tochter bist." (13)

So beginnt der erste Teil, der die Frage aufwirft, warum die Tochter nichts über die Mutter weiß, die als Lehrerin im Untergrund Kinder weiterhin in Deutsch unterrichtet, obwohl Mussolini die Sprache verboten und italienische Lehrer nach Südtirol entsendet hat.

"Um bloß nicht uns nehmen zu müssen, stellten sie lieber halbe Analphabeten aus Sizilien und dem ländlichen Venetien ein. Ob die Tiroler Kinder etwas lernten, kümmerte den Duce sowieso herzlich wenig." (36)

Der erste Teil (Die Jahre) erzählt von dieser Zeit, in der Trina ihr Examen gemeinsam mit ihren Freundinnen Barbara und Maja macht, im Wechsel der Jahreszeiten lebt, ihren Vater in der Schreinerei unterstützt und Erich kennenlernt - einen stillen jungen Mann, obwohl ihr Herz eigentlich für ihre Freundin Barbara schlägt. Nichtsdestotrotz heiratet sie Erich, der Widerstand gegen die Faschisten leistet, und nach dem Sohn Michael wird die Tochter Marica geboren. Trina glaubt, sie sei keine gute Mutter, sie hat Angst ihr Leben zu verpassen.

"Auf dich und deinen Bruder aufzupassen war mir bald zu viel. Ich litt, weil mir die Zeit fehlte. Während ich mit euch beschäftigt war, dachte ich, verpasste ich so viele schöne Dinge auf der Welt, die ich später, wenn ihr groß sein würdet, nicht nachholen könnte." (62)

Nachdem Hitler Österreich annektiert hat, eröffnet er den Südtirolern die Option, ins Reich zu kommen. Er wird als Befreier wahrgenommen, da er ihnen die Möglichkeit eröffnet, in ihrer Muttersprachen sprechen zu können.

"Auf Adolf Hitler zu hoffen war die einzige Rebellion." (71)
"Mama, ich will weg aus diesem Dorf. Hier kann ich nicht einmal mehr zur Schule gehen" (75), sagt Trinas Tochter.

Aus heutiger Perpektive völlig unverständlich, aus der damaligen Situation heraus, in der die italienischen Faschisten die deutschsprachigen Bewohner Grauns unterdrückt haben, teilweise nachvollziehbar. Wobei Erich durchaus weitsichtig erkennt, dass die diejenigen, die sich gegen die große Option entschieden haben, die "hier geblieben" sind, nach der Machtübernahme Hitlers in Südtirol mit Repressionen zu rechnen haben.

Von dieser Zeit handelt der 2.Teil, "Auf der Flucht", während der 3.Teil von der Fertigstellung des Staudamms und der Entstehung des Reschensees erzählt. Während der 2.Teil mitreißend und teilweise sehr emotional ist, fällt der letzte Teil im Vergleich zu den beiden vorherigen aus meiner Sicht etwas ab, da man weiß, dass der Kampf gegen den mächtigen Konzern nicht gewonnen werden kann und auch die Protagonistin selbst passiver wirkt, weniger in den Widerstand involviert ist, allerdings für diejenigen, die protestieren, die richtigen Worte findet.

Balzano hat dazu in einem Interview gesagt:

"Ein Schriftsteller muss immer versuchen, das Schweigen zum Reden zu bringen, das ist die größte Herausforderung. Ein Schweigen, dem es gelingt, das auszudrücken, was man nicht sagen kann, das, wofür die Wörter nicht genügen. In „Ich bleibe hier“ wollte ich eine Frau darstellen, die an das Wort als Mittel zum Widerstand glaubt. Auch als das Wasser das Dorf überflutet, auch als Trina alles verliert, auch als sie besiegt ist, bleiben ihr die Worte. Und solange wir die Möglichkeit haben, sie auszusprechen, haben wir nicht alles verloren."
(https://www.buchkultur.net/marco-balzano/)


Dass Balzano das "Schweigen zum Reden" bringen will, dies ist ihm mit diesem Roman gelungen. Die Situation der Südtiroler, die im Dilemma zwischen Bleiben oder Gehen standen, deren kulturelle Identität Spielball der politischen Kräfte geworden ist, hat er beeindruckend dargelegt.
Aber auch, wie machtlos die Bewohner Grauns gegenüber den ökonomischen Interessen des Konzerns Montecatini gewesen sind.

Ein lesenswerter Roman gegen das Vergessen!