Sonntag, 25. Oktober 2020

Charles Lewinsky: Der Halbbart

 - Alltagsgeschichte(n)

Leserunde auf whatchaReadin

Sebi, eigentlich Eusebius, ist der Protagonist des Romans, der im Jahr 1313-1315 in der Schwyz spielt. Aus der Sicht des 12jährigen Jungen erleben wir den Alltag im Mittelalter, in einer Zeit, in der die neue Eidgenossenschaft sich im Marchenstreit mit dem Kloster Einsiedeln befindet. Die historischen Zusammenhänge kann man teilweise aus dem Kontext erschließen, allerdings muss man, will man Näheres wissen, selbst recherchieren. 
Für Sebi spielt das alles zunächst keine Rolle, viel spannender ist, dass ein Fremder im kleinen Dorf auftaucht.

"Wie der Halbbart zu uns gekommen ist, weiß keiner zu sagen, von einem Tag auf den anderen war er einfach da." (9)

Keiner weiß es genau zu sagen, aber es ranken sich viele Geschichten darum, wie er sich am Rande des Dorfes niedergelassen hat. 

"Also, der Halbbart. Man nennt ihn so, weil ihm der Bart nur auf der einen Seite des Gesichts wächst, auf der anderen hat er Brandnarben und schwarze Krusten, das Auge ist dort ganz zugewachsen." (13)

Woher diese Verbrennung kommen, will der Sebi gerne wissen, aber er muss Geduld haben, bis der Halbbart seine Geschichte vollständig erzählen will und kann. Sebi freundet sich mit dem Fremden an, der medizinisch versiert ist und ihm "Schachzabel" beibringt. Die meisten Helvetismen versteht man, ohne das Glossar (www.diogenes.ch/halbbart) zu Rate zu ziehen, da sie sich aus dem Kontext ergeben und für zusätzlichen Lesegenuss sorgen.
Zu Beginn der Geschichte wird der Streit mit dem Kloster Einsiedeln bereits angedeutet, da sich Sebis Bruder Geni beim Roden verletzt - eine Arbeit, zu der sie vom Kloster aus gezwungen werden.

"wir sind keine Eigenleute, aber der Wald gehört ihnen, auch wenn wir ihn nutzen dürfen, und wenn sie rufen, müssen wir kommen." (19) 

Genis Bein bricht und die Heilkünste der im Dorf ansässigen Iten-Zwillinge führen fast dazu, dass er stirbt. Der Halbbart schlägt Sebi vor, dass Bein abzusägen - ein Vorschlag, den der mittlere, hitzköpfige Bruder Poli sowie Sebis Mutter ablehnen. Doch letztlich willigen sie ein, dass der Eichenberger, der als reicher Mann "Metzgete machen [kann], wann immer [er] Lust auf eine Blutwurst [hat]" (46) und folglich mit dem Messer umzugehen gelernt hat, das Bein abschneidet.
Lewinsky schont die Leser*innen nicht und schildert detailreich, was eine Amputation im Mittelalter bedeutet hat. Gut, dass die Kapitel recht kurz sind und oft zu Beginn das Ende des Abschnittes vorweg genommen wird, was geschieht. Erst danach erzählt der Sebi, was er gehört oder selbst miterlebt hat. So ist man schon mal vorgewarnt.

Sebi bezeichnet sich selbst als Finöggel - ein zartes Persönchen, daher möchte er am liebsten ins Kloster, um lesen und schreiben zu lernen.
Ein Wunsch, der für ihn in Erfüllung gehen wird, wobei sich herausstellt, dass das Leben im Kloster nicht das ist, was er erwartet hat, so dass sein weiterer Weg einige unerwartete Wendungen einschlägt.
Neben der sympathischen Figur Halbbart, der sich im Dorf niederlässt und sich mit dem Genibefreundet und dessen Name noch eine interessante Rolle spielen wird, ist es das Teufels-Anneli, das besonders fasziniert. Kommt das Teufels-Anneli ins Dorf, ist Sebi nicht zu halten. Im Winter, wenn es keine Arbeit draußen gibt, wandert sie über die Dörfer und erzählt Geschichten vom Teufel - gegen ein gutes Essen. Sebi findet, "sie hat den wunderbarsten Beruf auf der ganzen Welt." (116)

Und um kleinere und größere (Alltags-)Geschichten geht es in diesem Roman, der uns das Leben der "einfachen Menschen" im Mittelalter atmosphärisch vor Augen führt, gerade weil aus der Sicht des jungen Sebi erzählt wird, der mit seiner Interpretation der Ereignisse oft ins Schwarze trifft. Sicherlich beeinflussen der Halbbart und der Geni, die meistens vernünftig und besonnen agieren, ihn positiv.
Obwohl man es eigentlich weiß, erstaunt es doch, welcher Aberglaube vorgeherrscht hat, der tief in den Menschen verankert zu sein scheint. Dem Sebi macht am meisten zu schaffen, dass ein ungetauftes verstorbenes Baby nicht in den Himmel kommen kann, sondern im Limbus verweilen muss - eine Art Zwischenwelt, weder Himmel noch Hölle. Und doch findet er eine Lösung, so wie er oft clevere Ideen hat und die Leser*innen mit seinen Lebensweisheiten und -einsichten überrascht.
Er bewertet das, was er von anderen gehört hat und das was an Geschichten erzählt wird, wird irgendwann  Geschichte werden - wie es auf dem Buchrücken so treffend heißt. 

Ein empfehlenswerter Roman für alle diejenigen, die sich für Alltagsgeschichte(n) interessieren. Die geschichtlichen Fakten muss man, wenn es einen interessiert, nachlesen. Da hätte ich mir ein Nachwort mit eben jenen gewünscht, das ist aber auch der einzige Kritikpunkt am Roman ;)

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Lese-Exemplar!