Sonntag, 21. Januar 2024

Iris Wolff: Lichtungen


"Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen.“ (S.76)

Der Protagonist Lev ist zu Beginn der Handlung ca. Mitte-Ende 30 und arbeitet in einem privatisierten Sägewerk in Rumänien. Geboren im kommunistischen Vielvölkerstaat während der Diktatur Ceaușescus, stellt er sich als Kind die Frage "was er sei. (...) Bei einer siebenbürgisch-sächsischen Mutter, einem rumänischen Vater und einem österreichischen Großvater sei die Sache nicht so einfach." (S.232)
Für Iris Wolff, die selbst mit ihrer Familie 1986 Siebenbürgen Richtung Deutschland verlassen hat, ist die Frage der Zugehörigkeit ein zentrales Thema des Romans.
Die Unsicherheit, welche Identität er hat, bestimmt Levs Leben und weckt in ihm den Wunsch nach Konstanz und Sicherheit. Auch ein tragische Unfall in seiner Kindheit sowie der frühe Verlust seines Vaters führen zu diesem Wunsch und prägen entscheidend sein Leben.

"Lev hatte kaum Erinnerungen an seinen Vater, der bei einem Bergrutsch verunglückte, als er fünf Jahre alt gewesen war." (S.240)

Diese wenigen Erinnerungen sind wie "Lichtungen", immer wieder taucht dieses Motiv des Titels in den einzelnen Kapiteln auf, die die prägenden Situationen aus Levs Leben, an die er sich erinnert, erzählen.

"Jeder Augenblick (...) enthielt alles Gewesene, und war doch immer wieder ein Neubeginn." (S.34)

Als Leserinnen und Leser steigen wir mit einem Neubeginn ein.

„Dieselgeruch, Lautsprecherdurchsagen, vom Wind zerhackt; er war so stark, dass sie sich schräg gegen ihn lehnen konnten, mit aufgeblähten Shirts, flatternden Hosen, Brausen in den Ohren, im Kopf, im Körper. Noch Minuten später, im Inneren der Fähre, war dieses Brausen zu spüren, ein Nachbeben, Nachklang, und Lev dachte unwillkürlich daran, wie Sägeblätter in eigenwillig-summendem Takt nachschwangen, wie der Boden mit einem Mal ruhig wurde, und das Sägemehl, das über der Maschine schwebte, herabfiel – leicht verzögert, verwundert, von der Schwerkraft überrascht.“ (S.9)

Wir erfahren, dass Kato, Levs Freundin seit Kindertagen, die Rumänien nach der Öffnung der Grenzen verlassen hat und als Straßenkünstlerin ihr Geld verdient, ihn zurück nach Rumänien begleiten wird.

„Wir reisen gemeinsam zurück?“ (…) „Ja“, sagte Kato. Einfach nur: Ja. Das reichte ihm für den Moment.“ (S.11)

Auch wir reisen zurück, denn Iris Wolff erzählt Levs Leben bis zu jenem Moment rückwärts in neun Kapiteln. Dabei ist jedem Kapitel ein passendes Zitat vorangestellt, das im Zusammenhang mit der Handlung steht und diese sozusagen beleuchtet.

Aufgrund der Erzählweise liegt der Fokus in Bezug auf Kato und Lev, wie es zu dem Moment kommt, da sie mit ihm zurückkehren möchte. Warum ist sie ohne ihn in den Westen? Wie ist es dazu gekommen, dass sie ihm geschrieben hat, er solle kommen. Warum hat er sie nicht vorher besucht?
Sukzessive tauchen wir in Levs Vergangenheit ein, aus seiner personalen Perspektive wird seine Geschichte erzählt, die mit Katos eng verknüpft ist. 
Schritt für Schritt entblättert sich sein Leben vor uns, bis wir in seiner seiner frühen Kindheit angelangen. Obwohl man weiß, dass es zwischen Lev und Kato eine Art "Happy End" gibt, liest man doch mit Spannung, entdeckt die verschiedenen Figuren in Levs Leben, welche Bedeutung sie für ihn haben und welchen Einfluss sie auf ihn ausüben. Manches bleibt vage und wird nicht erklärt.

„In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es tauchte nie wieder auf."

Insgesamt ein wunderbarer Roman, der von einer besonderen Freundschaft erzählt, von der Frage nach der eigenen Identität und danach, was uns im Leben prägt - und das in einer außergewöhnlichen metaphorischen Sprache.  Iris Wolff verfügt über eine besondere Beobachtungsgabe, lässt mit ihren Worten sofort Bilder im Kopf entstehen, die es mir leicht machen in diese Geschichte einzutauchen.
Auch das liebevoll gestaltete Cover sorgt dafür, dass man dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte. 

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