Leserunde auf whatchaReadin
Am Anfang des Romans war ich sehr verwirrt, sowohl Klappentext als auch Buchrücken und nicht zuletzt das Cover suggerieren, dass es sich bei Lillian Cutting um eine historische Persönlichkeit handelt. Nach erfolglosem Googeln habe ich die
Ankündigung genauer gelesen und mir ist bewusst geworden, dass sie eher exemplarisch für eine erfolgreiche Frau in einer männerdominierten Welt steht, die von ihrem Sohn schamlos auf Seite geräumt wird.
Die Handlung beginnt mit der Nachfahrin Lils – Sarah, die eine Hirntumor-Operation und eine Strahlentherapie hinter sich hat und der es so miserabel geht, dass sie mit Selbstmordgedanken spielt. Doch dann meldet sich ihr Chefredakteur freudig bei ihr, dass ein Brief von Lil Cutting gefunden wurde, der sozusagen den Ausschlag dafür gibt, dass Sarah wieder zum Leben erwacht und beginnt die Geschichte ihrer Urahnin niederzuschreiben.
„Aber dieser eine Brief Lil Cuttings an Colby Sandberg, ein schief beschriebenes Blatt voller Angst und Zorn, war das letzte, erschütternde Dokument, das mir zu dieser Geschichte gefehlt hatte. Jetzt bin ich sie uns schuldig.“ (S.10)
Und so beginnt Sarah im ständigen Dialog mit ihrer Hündin Miss Brontë die unglaubliche Geschichte Lils niederzuschreiben.
Die Gespräche mit der Hündin markieren die Gegenwart, die Nachfragen Miss Brontës erhellen die Geschichte und bringen gleichzeitig einen ironischen Ton in die Handlung – ich finde diese Idee wundervoll.
Wer war Lillian Cutting?
„Allgemein bekannt ist, dass die Millionenerbin Lillian Cutting um 1880 mit ihren exzentrischen Investitionen ganz New York in besorgtes Erstaunen versetzte. Sie vermehrte ihr Vermögen nach einer Logik, die den Experten verrückt und selbst dem Börsenprofi John D. Rockefeller wie Schwarze Magie vorkam.“ (S.12)
So erfolgreich darf eine Frau nicht sein, denn sie beleidigt „jeden Sinn für Proportion, Anstand, Geschmack“, sie maßt sich ein Leben an, „das ihr als Frau nicht zustand.“ (S.12)
Im Mittelpunkt dieses Romans voller Esprit steht für mich das Bestreben, die Geschichte einer Frau zu erzählen, die es gewagt hat, erfolgreicher als die Männer zu sein, die ihren eigenen Weg geht und sich nicht um Konventionen schert - und das muss, nach Meinung der damaligen Gesellschaft bestraft werden, weil sie sich nicht anpassen will.
Ihrem Sohn, der nach dem Tod des Vaters an das ganze Erbe herankommen möchte, gelingt es, sie mit üblen Tricks in der Nervenheilanstalt „Hops Island“ unterzubringen, in der sie unter Morphium gesetzt wird und dem behandelnden Doktor Matthew Fairwell ausgeliefert ist, ein besonders perfider Vertreter eines „Psychiaters“, dessen unmenschliche Untersuchungsmethoden leider in dieser Zeit üblich sind. Da helfen Miss Brontës Einlassungen und der saloppe Ton, den Sarah anschlägt, sonst könnte man das kaum ertragen.
Die Anwältin Colby Sandberg, die als gleichberechtigte Partnerin mit ihrem Mann zusammenarbeitet und ebenfalls von der feinen Gesellschaft New Yorks mit Verachtung gestraft wird, wird auf den Fall Lillian Cutting aufmerksam und besucht sie im Sanatorium. Sofort ahnt sie, dass Lil gegen ihren Willen festgesetzt wird. Was folgt ist eine märchenhafte anmutende Geschichte, in der Lil letztlich ihrem Namen "Lil the Kill" alle Ehre macht – doch wie es dazu kommt, möchte ich nicht vorwegnehmen, denn die Lektüre macht unglaublich viel Spaß. Vieles, was man über die Nervenheilanstalt liest, mag man allerdings nicht glauben und doch ist es wissenschaftlich belegt, ebenso das Verhalten der sogenannten höheren Gesellschaft gegenüber einer erfolgreichen Frau.
Warum Sarah unbedingt die Geschichte ihrer Urahnin erzählen möchte, erschließt sich am Ende des Romans und auch das ist unglaublich, aber nach verlässlicher Aussage des Autors, der die Leserunde mit seinen Kommentaren bereichert hat, tatsächlich so geschehen.
Für mich ein Roman, der unterhält, aber auch erschüttert - so soll es sein.
Klare Leseempfehlung!