Sonntag, 7. Januar 2024

Bernhard Schlink: Das späte Leben

 Leserunde auf whatchaReadin

Spät wird Martin, Juraprofessor, Vater - erst mit 70 Jahren. Seine Frau Ulla ist Mitte 40.

"Die zwölf Jahre seit der Hochzeit waren gute Jahre. Sie kauften ein kleines Haus mit Garten am Rand der Stadt. Ulla schloss das Studium ab, verlegte sich ganz aufs Malen, fand ein Atelier und eine Galerie, in der sie ausstellte und immer wieder aushalf, und bekam vor sechs Jahren David. Er lehrte bis siebzig an der Universität und schrieb danach weiter, wandte aber immer mehr Zeit an David und an den Garten und ans Kochen. Er nahm das Leben mit Ulla, dem Sohn und den verbliebenen Tätigkeiten als Geschenk, dem man nicht ins Maul schaut." (S.24)

Doch jetzt ist diese Zeit vorüber, denn Martin leidet an Bauchspeicheldrüsenkrebs - unheilbar. Ihm bleibt ohne Therapie noch maximal noch ein halbes Jahr
Ein Kritikpunkt in der Leserunde war die mangelhafte Recherche und infolgedessen die fehlende Expertise im medizinischen Bereich. Von der Tatsache, dass alle Entscheidungen vom Hausarzt gefällt werden, Therapiemöglichkeiten nur unzureichend diskutiert werden bis hin zur fragwürdigen Medikation bei Krebs - all das interessiert Schlink offenkundig nicht, zerstört jedoch die Glaubwürdigkeit der Geschichte.
Ihm geht es ausschließlich darum, wie ein alter Mensch reagiert, im Angesicht dessen, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Was soll er seinem Sohn mit auf den Weg geben, was möchte er hinterlassen? Kann er seinen Lebensweg überhaupt noch beeinflussen? Oder muss er das Leben loslassen?
Schade, dass er das Klischee des alten Mannes mit jüngerer Frau bedient hat. Kann man nicht auch das Bedürfnis haben, seinen Enkeln etwas hinterlassen zu wollen?

Die Reaktion seiner jüngeren Frau auf seine Diagnose mutet seltsam kühl und unempathisch an, sofort gerät sie ins Tun:
"Was willst du jetzt machen?" (S.26)
Sie wird als pragmatisch, nüchterne Frau beschrieben, die ohne Vater aufgewachsen ist. Er habe die Familie verlassen, als sie noch sehr klein gewesen sei, berichtet Ulla Martin und betont gleichzeitig, dass sie keinen Vaterersatz gesucht hat. Trotzdem begibt sich Martin auf die Suche nach Ullas Vater? Ist es der Wunsch Gutes zu tun, noch ein letztes Mal Einfluss zunehmen oder ist es übergriffig, dies ohne ihr Wissen zu tun?

Ulla bringt Martin auf die Idee, David einen Brief zu schreiben, der wortwörtlich von Gott (und der Welt) handelt. Es geht um sein Verhältnis zur Religion, um die Gerechtigkeit der Liebe, um einen gerechten Gott.
Zunächst ist dieser Brief sehr unpersönlich, es scheint fast so, dass Schlink seine persönliche Meinung zu diesen Themen im Roman hinterlassen möchte.
Allerdings wird Martin bewusst, dass er mit dem Brief David auch eine Gewissheit mitgeben will:
"Die Jahre mit ihm und die Erinnerung an die Jahre mit ihm sollten für David ein Grundstock an Gewissheit werden, dass er geliebt war. Er sollte sich jetzt als kleiner und später als großer Mensch nicht anstrengen müssen, um sich angenommen und aufgehoben zu wissen. Die Gewissheit, geliebt zu sein, sollte bei den Anstrengungen des Lebens beflügeln, nicht Belohnung für sie sein." (93f.)
Auch in seinem Handeln wird dieses Bestreben offensichtlich. Martin nutzt die Zeit mit seinem Sohn intensiv, er unternimmt eine Wanderung, legt gemeinsam mit ihm einen Komposthaufen an, kümmert sich um ihn, allerdings bereitet er David kaum auf seinen bevorstehenden Tod vor, auch Davids Mutter tut dies nicht.
Zugute halten muss man dem Protagonisten, dass er am Ende die gemeinsame Zeit am Meer ausklingen lässt, intensive Tage mit seiner Familie verbringt, das Leben laufen lässt. Und auch die Leser:innen werden auf den letzten Seiten etwas versöhnt. Das Ende Martins erspart uns der Autor glücklicherweise.

Während man Martins Verhalten, aus dessen personaler Perspektive die Handlung geschildert wird, teilweise nachvollziehen kann, ist Ullas Handlungsweise oft nicht verständlich. Ob es ihre Reaktionen auf Martins Brief, den sie wie selbstverständlich liest, noch seine Vorschläge in Bezug auf David noch ihre Verhaltensweisen außerhalb ihrer Familie sind, die Figur wirkt nicht authentisch und nicht in sich schlüssig.

Insgesamt fällt meine Bewertung für einen von mir sehr geschätzten Autor eher bescheiden aus. Der Roman liest sich gut - aber ist das ein Qualitätsmerkmal? Es sind sehr viele Wendungen, die ebenfalls in dieser Dichte unglaubwürdig sind.
Schlink hätte sich auf das Thema des herannahenden Todes  und den Fragen konzentrieren sollen, was bleibt von mir, was möchte ich hinterlassen, kann ich das Leben meiner Lieben noch lenken oder muss ich es loslassen. Wenn es in den Szenen und in Martins Gedanken darum geht, zeigt der Roman seine Stärke.