Dienstag, 6. August 2019

Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen


-        Preis der Leipziger Buchmesse (2019)



Der Roman „Schäfchen im Trockenen“ ist als Brief an die älteste, 14-jährige Tochter der Ich-Erzählerin konzipiert:
„Hör zu, Bea, was das Wichtigste ist und das Schlimmste (…), dass es keine Eindeutigkeit gibt. Das muss ich hier, ganz zu Anfang, schon mal loswerden – weil ich es immer wieder vergesse. (…) weil meine Sehnsucht nach Eindeutigkeit so groß ist und die Einsicht, dass es keine gibt, mich so schmerzt. (5)“
Die Ich-Erzählerin Resi hat mit ihrem letzten Buch ihre Freunde kritisiert und deren Verlogenheit aufgedeckt, alle hätten die gleichen Chancen und tuen so, als gäbe es keine Unterschiede zwischen ihnen. Ausgangspunkt ist der Umzug in ein gemeinsam entworfenes Haus in der Innenstadt, in das Resi aus Kostengründen nicht miteinziehen kann – sie lehnt sowohl die Erdgeschosswohnung als auch Geld eines ihrer Freunde ab, weil sie nicht mit Almosen abgespeist werden will.
Resi wäscht mit ihrem Buch schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit.
Ein Umstand, der dazu führt, dass die Freunde ihr die Freundschaft gekündigt haben und, was für eine 6-köpfige Familie in Berlin Mitte besonders drastisch ist, auch die Wohnung.
Mit „Schäfchen im Trockenen“ reagiert Resi auf die Reaktion ihrer einstigen Schulfreund*innen und deren Partner*innen und schreibt sich ihren Frust, ihre Entrüstung, ihre Wut von der Seele. Dabei beleuchtet sie die zurückliegenden Ereignisse nicht chronologisch, sondern springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sie führt fiktive Gespräche mit ihren Freund*innen, entwirft alternative Handlungen, was beim Lesen ab und an für Verwirrung sorgt.
Auch flicht sie Episoden aus dem Leben ihrer Mutter ein, der sie vorwirft,
„ihre Träume von Freiheit ihren Töchtern aufgehalst zu haben – ohne Idee davon oder Hinweis drauf, wie sie vielleicht zu verwirklichen wären.“ (8)
Aus diesem Grund will sie ihrer Tochter Bea schonungslos die Wahrheit schreiben, will sie „aufklären“, vorbereiten auf ein Leben, in dem es Gerechtigkeit nicht gibt und das „Haus“, aus dem man stammt, immer noch maßgeblich über das Leben entscheidet, das man führt.
„Bea ist jetzt vierzehn und gehört initiiert. Aufgeklärt und eingeführt in die Welt der Küchenböden, Arbeitsteilung, Arbeitsverteilung, Putzjobs, Lohnkosten, (…). Anders als meine Mutter werde ich nicht davon ausgehen, dass sie mit der Zeit schon erfährt, was sie wissen muss (…)“ (12)
Sie soll die Wahrheit erfahren, dass die Freund*innen Resis „ihre Schäfchen im Trockenen“ (15) haben, in die Fußstapfen ihrer wohlhabenden, reichen Eltern getreten sind, während sie selbst, als Künstlerin, die aus ärmlichen Verhältnissen stammt, mit Künstlerehemann und vier Kindern Schuld daran hat, in einer weniger privilegierten Situation zu sein, denn Kinder kosten bekanntlich Geld und man sollte sie nur bekommen, wenn man sie sich leisten kann  - so die Meinung ihrer Freund*innen.
Am Beispiel eines Skiurlaubs, an dem alle damals 17-jährigen Freund*innen teilnehmen - weil es selbstverständlich bisher Teil ihrer Familienurlaube gewesen ist – beschreibt Resi, wie ihr der Unterschied zum ersten Mal wirklich deutlich ins Bewusstsein getreten ist. Hätte sie einfach mitfahren sollen, sich Geld leihen, sich mehr anstrengen müssen, „weil wir ja auch alle unseres Glückes Schmied waren.“ (69) Oder sind die „Klassengrenzen“ oder Standesunterschiede nicht zu überwinden? Um diese Frage dreht es sich letztlich, darin waren wir uns im Lesekreis einig.
Der Roman ist, so sagt die Ich-Erzählerin selbst, „das Gegenteil eines gut gebauten, elegant komponierten Romans.“ (42), was natürlich gnadenlos untertrieben ist. Er ist durch und durch komponiert, mit zahlreichen intertextuellen Anspielungen versehen. Die Handlung führt letztlich immer wieder in ihre Kammer – ihr eigenes, kleines, fensterloses Zimmer zurück, das sie zur Verfügung hat – eine Anspielung auf den Essay von Virginia Woolf „A room of one´s own“ (Schön, wenn Belesene im Lesekreis diskutieren 😉). Trotz dieser Komposition habe ich persönlich beim Lesen aufgrund einiger Wiederholungen Längen empfunden, die jedoch, wie meine Mitleserinnen argumentierten, die unterschwellige Bitterkeit der Protagonistin zum Ausdruck bringen sollen. Insgesamt, und da waren wir und einig, werden viele gut beobachtete Szenen erzählt, in der Resi das scheinheilige Verhalten ihrer Freund*innen, die die „unterschiedlichen Voraussetzungen (…) ignorieren“ und „mit neoliberalem Geschwätz von Aufstiegschancen“ (220) bemänteln, messerscharf und bitterböse seziert. Auch an Witz und Ironie sowie Selbstkritik mangelt es nicht.
Am Ende wird Resi dann ganz deutlich, sie prangert an, dass alle Probleme zugedeckt würden - statt offen zu sagen, dass zum Beispiel eine Familie zu sein, nicht immer schön ist. Dass Fotos gepostet werden, „um zu blenden, anzugeben, zu behaupten“ (238). Doch wie sieht die Wahrheit dahinter aus? Warum traut sich niemand auszusprechen, was nicht schön ist, was falsch läuft?
Resi hat sich getraut und ist dafür von ihren Freund*innen bestraft worden, weil man das nicht tut, schon gar nicht in der Öffentlichkeit.
Etwas problematisch fanden auch wir, dass die Autorin ihr eigenes Leben im Roman verarbeitet hat, dass hinter den Freund*innen echte Menschen stehen, die sich in den Figuren wiedererkannt haben – was ist Fiktion, was Realität? – oder sollte man sich diese Frage nicht stellen? Schließlich steht auf dem Buchdeckel „Roman“ und Ich-Erzählerin ist nicht gleich Autorin…
Mich persönlich hat diese Frage beim Lesen weniger beschäftigt, sondern mir hat die offene Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie unsere Kommunikation und unser Verhalten die wahren Gefühle, Sorgen und Ängste beschönigen, übertünchen und verdecken, gefallen. Die teilweise drastische Sprache weniger, aber zur Wut, zum Ungeschönten gehört sie wohl dazu – soll schocken und aufrütteln. Das gelingt 😉.