Sonntag, 3. November 2019

Anna Quindlen: Der Platz im Leben

- amerikanische Schein-Idylle.

Leserunde auf whatchaReadin

Im Mittelpunkt des Romans steht Nora Nolan, aus deren personaler Perspektive der Roman erzählt wird. Nora ist seit 25 Jahren mit ihrem Mann Charlie zusammen und sie leben in Manhattan, West Side, in einer Sackgasse, die wie ein abgeschlossener Lebensraum wirkt:

"Wer hier ein Haus besaß, hatte nicht nur die eigenen, sondern auch die Kinder der anderen aufwachsen sehen, hatte die Hunde auf ihrem Weg vom Welpen bis zur Gebrechlichkeit und schließlich ins Krematorium auf dem Haustierfriedhof in Hartsdale begleitet. Jeder wusste, wer wann renovierte und wer es sich nicht leisten konnte. Sie hatten alle denselben Handwerker." (9)

Man kennt sich also gegenseitig. Noras Kinder, die Zwillinge Rachel und Oliver gehen inzwischen aufs College, das Paar hat sich in der Ehe eingerichtet - "Das Eheversprechen, so empfand Nora es seit Langem, kam einem Loyalitätseid gleich." (24) -
und auch in ihrem Leben: "Nora erinnerte sich noch gut, was sie selbst alles in den Sand ihrer Zukunft gemalt hatte. Weniger gut erinnerte sie allerdings, wann aus dem Sand Zement geworden war, aus "Der, die ich sein will" ein für alle Mal "die, die ich bin." (35)

Ein freudiges Ereignis steht zu Beginn der Handlung. Charlie hat endlich einen Parkplatz innerhalb der Sackgasse erhalten - ein Triumph, der ihm zeigt, dass er jetzt wirklich dazugehört. Während er als Investmentbanker mehr oder weniger erfolgreich ist, arbeitet Nora in einem gut gehenden Schmuckmuseum. Alles scheint gut zu sein, doch Konflikte deuten sich an. Warum ruft Charlies Chef Nora an? Will er sie abwerben?
Auch zwischen George, der sich selbst zum Aufseher über die Straße ernannt hat und den Nora nicht ausstehen kann, und dem Handwerker "Ricky", der lateinamerikanischer Herkunft ist, kommt es zu Unstimmigkeiten, da Ricky mit seinem Lieferwagen angeblich die Einfahrt zum Parkplatz versperrt.

Auch in der Ehe der Nolans gibt es Konfliktpotential. Charlie straft Nora ab, nachdem er erfahren hat, dass sie ein Gespräch mit seinem Chef geführt hat: "strafendes Schweigen, Vorwürfe, Fragen, weitere Vorwürfe, strafendes Schweigen." (85) Während Nora beruflich gut dasteht, hat Charlie in letzter Zeit eine Flut von Enttäuschungen erlebt, das scheint er nicht zu verkraften.

In den Mittelpunkt rückt neben diesen Konflikten auch die Stadt New York selbst, deren Veränderungen Nora beobachtet und die sie trotzdem über alles liebt - im Gegensatz zu Charlie, der sie lieber verlassen möchte. Sie erinnert sich zurück an ihre erste Zeit in New York, an ihr Zusammenleben mit ihrer besten Freundin Jenny und wie sie Charlie kennen gelernt hat und stellt fest, dass sie sich genau wie NY selbst verändert hätten - die "Ecken und Kanten, ihre Eigenheiten abgeschliffen" (106) - ihr jüngeres Ich würde sie nicht wiedererkennen.

Und dann ereignet sich etwas, das die Idylle der Straße zu zerreißen droht. An einem Morgen im Dezember hört Nora auf der Straße ein Geräusch:
"Am Anfang war nur ein durchdringendes Hämmern zu hören, hinter dem sie zunächst einen Pressluftbohrer vermutete (...). Erst als sie näher kam und die Schreie einsetzten, Schreie, die immer weiter und weiter und weiter gingen, bis sie sich am liebsten wie ein Kind die Ohren zugehalten hätte, wurde ihr klar, was dieses letzte Geräusch gewesen war: Jack Fisk [ein cholerischer Anwohner der Straße], der Ricky mit einem Golfschläger seitlich ans Bein hieb" (130),
während Charlie versucht, ihn davon abzuhalten.
Dieses Ereignis spaltet die Straße, unterschiedliche Geschichten des Ereignisses zwingen die Anwohner sich auf eine Seite zu stellen. Offen treten die sozialen Unterschiede zwischen der privilegierten Mittelschicht und denen, die für sie arbeiten, zutage. Auf welche Seite sich Nora stellen wird, ist aufgrund ihres empathischen Verhaltens offensichtlich, doch wie positionieren sich die anderen? Nicht zufällig sucht eine Rattenplage die Straße heim und trübt das bisher friedliche Zusammenleben.
Der Vorfall hat Auswirkungen auf alle, auch auf die Ehe der Nolans und deren Familie.

"Die Menschen gehen im dem Glauben durchs Leben, wie würden Entscheidungen treffen, dabei machen sie im Grunde nur Pläne, was keineswegs das Gleiche ist. Unterwegs nehmen sie ein wenig Schaden, es entstehen lauter kleine Risse, auch wenn sie ganz bleiben, sind sie doch ein wenig lädiert." (358)

Ein kluger Roman über die unsichtbare Linie, die die sozialen Schichten in New York trotz aller Veränderungen immer noch trennt. Über die Frage, wie lange man eine Ehe aufrecht halten kann, darüber, wann man die Loyalität aufkündigen muss, um sich selbst treu zu bleiben.

Klare Leseempfehlung!

Vielen Dank dem Penguin-Verlag für das Rezensionsexemplar.