Sonntag, 17. November 2019

Christoph Poschenrieder: Der unsichtbare Roman

- Fakt oder Fiktion?

Leserunde whatchaReadin

"Wie der Leser zum Komplizen des Autors wird." (268)

Christoph Poschenrieder spielt in seinem Roman mit dem, was hätte sein können, und dem, was wahr (?) ist.

Am Ende des 1.Weltkrieges erhält der für seine Geschichten im Münchner Satireblatt Simplicissimus bekannte Autor Gustav Meyrink vom Auswärtigen Amt den Auftrag, einen Roman zu verfassen, der die Schuld für den Ausbruch des Krieges den Freimaurern zuschreiben soll.
"In groben Zügen, mein Herr. Die Angelegenheit ist im Grunde überaus simpel: Wir möchten, dass Sie einen Roman schreiben, aus dem für jedermann klar ersichtlich und verständlich wird, wer am Ausbruch des andauernden, bedauerlichen Krieges schuld ist. Wenn es außerdem unterhaltsam wäre, schadet es auch nicht." (15)

Er soll "Fake News" in die Welt setzen,
"noch kann er den Umschlag an den Einarmigen zurückreichen, mit vor Indignation zitternder Stimme ausrufen: Was erlauben Sie sich, mich mit Ihrem abstrusen, was sage ich, infamen Anliegen heimzusuchen. Ich bin ein Künstler und damit per definitionem nicht käuflich! Gut, denkt Meyrink, gut wenigstens ein Mal in Gedanken inszeniert zu haben, was auszusprechen ich nicht über mich bringe." (16)

Poschenrieder erzählt diese Geschichte, wie Meyrink nach Berlin reist, sein Ringen darum, diesen Roman zu schreiben, was ihm aber nicht so recht gelingen will.
"Es ist furchtbar, nicht schreiben zu können. Das ging doch immer so einfach." (155)
Nebenbei werden wir Zeuge der revolutionären Umtriebe Kurt Eisners in München und Zeuge der Gespräche zwischen Meyrink und dem erfolglosen Schriftsteller Erich Mühsam, der bei der Novemberrevolution zu kurz gekommen, eine Rolle in der Räterepublik gespielt hat.

Eingebettet in die Handlung um den zu schreibenden Roman, der die Fake News verbreiten soll, sind Passagen in der Ich-Perspektive Meyrinks, die sein Leben erzählen, wobei er von seiner unehelichen Geburt erzählt - "Ich" - und seinen alchemistischen Versuchen - "Ich, Goldmacher"-, von seinen erfolglosem Dasein als Bankier hin zu seinem Dasein als Schriftsteller.
"Der Schmerz brachte mich zum Schreiben. Der Rückenschmerz, nicht der Weltschmerz." (178)

Eine Passage berichtet von dem Missverständnis, dass er für einen Juden gehalten wurde, was dazu geführt hat, dass er massiven Anfeindungen ausgesetzt gewesen ist. Gleichzeitig ein Grund, warum gerade er den Roman über die Schuld der Freimaurer am Ausbruch des 1.Weltkrieges schreiben soll.
"Ja, denkt Meyrink, darin könnte seine besondere Qualifikation für diese Aufgabe von nationaler Bedeutung liegen: ein angeblicher Jude mit einer Riehe gutdokumentierter Ausfälle gegen das Deutschnationale, das Militär, das Establishment in allen seinen bürgerlichen Spielarten." (25)

Eingeschoben in beide Handlungsstränge sind Recherchenotizen des Autors Poschenrieder, der akribisch alle Quellen herangezogen hat, um das Leben Meyrinks zu rekonstruieren. Diese echten "Fakten" ermöglichen eine weitere Sicht auf die Ereignisse - sind sozusagen authentische Stimmen aus der Vergangenheit.
"Der Gustl war ja ein Finanztrottel. Und wenn er Geld gehabt hätte, hätte er nicht geschrieben." (112)
[Nachlass von Carlo Mor von Weber: Mena Meyrink zum 90.Geburtstag]

Der Aufbau des Romans, die unterschiedlichen Perspektiven, die eingefügten Fakten machen ihn außergewöhnlich und besonders, behindern aber auch den Lesefluss. Gerade im Mittelteil habe ich oft den Faden verloren, hat der Roman Längen.
"Das Aufhäufen ist die Tugend der Ameisen, Genie trägt ab." (75)
- wäre ein guter Leitspruch für die "Mitte" gewesen.

Allerdings entlohnt der ebenfalls überraschende Schluss für das Durchhalten. Begeistert hat mich die Ironie und die lakonische Sprache Poschenrieders, die immer wieder zum Lachen einlädt und über den etwas langatmigen Mittelteil hinweg trägt.

Insgesamt ein innovativer Roman, der aufgrund seiner Sprache und des außergewöhnlichen Aufbaus lesenswert ist, und der zeigt, dass es immer schon das Bestreben der Mächtigen gegeben hat, uns das glauben machen zu lassen, was sie für die Wahrheit verkaufen wollen.

Vielen Dank dem Diogenes Verlag für das Leseexemplar.