Mittwoch, 10. Juli 2024

Tom Rachmann: Die Hochstapler

Leserunde auf whatchaReadin

Ein grandioser Roman, der das Schreiben und die Schriftstellerei thematisiert, mit Fiktion und Realität spielt und der nebenbei zeitaktuelle Themen, u.a. die Pandemie, unter die Lupe nimmt.

Zu Beginn - ein Inhaltsverzeichnis, das darauf hindeutet, dass wir mehrere kleinere Geschichten lesen werden. "Die Autorin" macht den Anfang und beendet den Raum, dazwischen finden sich Kapitel über den Bruder, die Tochter, die Freundin der Autorin, aber über Menschen, die ihr zufällig begegnet sind.
Zwischen den einzelnen Kapiteln oder Geschichten stehen Tagebucheinträge der fiktiven Autorin Dora Frenhofer, in denen sie ihren Erfolg als Schriftstellerin, ihren Schreibprozess, ihre zunehmende Demenz und auch die Situation während der Corona-Pandemie reflektiert. Sie nimmt uns beim Erstellen ihres letzten Manuskripts mit und liefert uns einen Einblick in ihr "reales" Leben. 

Das erste Kapitel beschreibt die Autorin selbst, bzw. die literarische Figur Dora Frenhofer in ihrer beginnenden Demenz, was an den Schreibfehlern deutlich wird und an dem eingebildeten "Senilitätsassistenten", ihrem Lebensgefährten Barry, der offenkundig nicht wirklich existiert.

"Niemand ist oben oder sonst wo im Haus. Nur Dora, die über eine Romanfigur brütet, diesen Ehemann Barry (...) den sie in eine Geschichte eingebaut hat, die, wie die meisten ihrer Geschichten in letzter Zeit, keinen richtigen Sinn ergeben." (S.18)

Im ersten Tagebuch beleuchtet sie die Frage, ob sie den Schriftstellerinnenberuf aufgeben kann und den Schreibprozess selbst. Der Teil ist aus der Ich-Perspektive geschrieben. Interessant ist die Idee, dass der letzte Satz des Tagebuchs den Beginn des nächsten Kapitels darstellt, in dem es um den Bruder der Autorin geht, der 1974 von der Autorin gedrängt wurde, nach Indien zu reisen, um etwas zu erleben.

Großartig schildert Dora Frenhofer das, was ihrem Bruder in Indien geschehen sein könnte und flicht nebenbei die Problematik der wachsenden Bevölkerung anhand der Geschichte einer weiteren Person ein. Beide treffen aufeinander- gut erzählt und teilweise komisch und tragisch. Genau wie das Kapitel über ihre Tochter Beck Frenhofer, die Texte für Comedians verfasst, ohne dass dies jemand wissen darf. Selbst auf der Bühne gescheitert, ist dies ihr Talent. Für andere Gags zu schreiben.

"Sie hat seit Jahren nicht mehr auf der Bühne gestanden und ist in der Öffentlichkeit unbekannt. Trotzdem ist Beck Frenhofer eine der einflussreichsten Comedians ihrer Generation." (S.87)

In diesem Kapitel werden die Auswirkungen des Lockdowns auf die Künstlerszene aufgezeigt, aber auch aktuelle Themen wie Cancel-Culture, Blackfacing und wie "grottenschlechtes" Material viral gehen kann. Wie eine Reaktion eine Gegenreaktion erzeugt.
Stilistisch unterscheidet sich dieses Kapitel extrem vom vorherigen - vom Vokabular, Satzbau, stilistische Mittel. Rachmann tritt meines Erachtens genau den Ton der Szene. Beck glaubt kurzfristig, sie könne eine eigene Karriere beginnen, endlich auf die Bühne treten, doch sie bleibt Regisseurin im Hintergrund.

"Der Käfig ist offen. Das Tier bleibt, wo es ist." (S.117)

Im Tagebuch erinnert sich Dora daran, wie sie Becky das Lesen beigebracht hat.
Hier taucht der Titel explizit zum ersten Mal auf, da Dora steht Angst hatte, literarisch Gebildete könnten sie als "Hochstaplerin" entlarven. (S.122)

Jedes Kapitel hat seinen eigenen Sound, einen für die Figur passenden Stil. Jede Geschichte für sich wirkt sehr realistisch, alle Protagonisten sind authentisch, glaubwürdig gezeichnet. Die Kritik bzw. die Beobachtungen über gesellschaftliche Phänomene und Probleme werden so in den entsprechenden Kontext, in die Geschichte der einzelnen Figuren eingebettet, dass sie "by the way" daherkommen. Keine Belehrung, kein Pädagogisieren, nur Beobachtungen, so dass wir als Leserinnen und Leser uns selbst eine Meinung dazu bilden können.

Hat man das letzte Kapitel gelesen, stellen sich folgende Fragen:
Welcher Teil ist Fiktion der Autorin Frenhof, wo begegnet uns die wahre Dora Frenhofer? In den Tagebucheinträgen, im letzten Kapitel? Welche Figuren sind fiktiv, welche haben als Freunde der Autorin wirklich existiert?
Das Grandiose ist jedoch, dass diese Fragen letztlich nicht wichtig sind, sondern zeigen, welche Wirkung Fiktion entfalten kann. Wie gebannt wir die Geschichten der herausragend gestalteten, authentischen Figuren verfolgen. Jede einzelne Figur und das, was ihr widerfahren ist, könnte es real sein und ist doch fiktiv - im doppelten Sinne ;)

Ein brillanter, intelligenter Roman, ein Lesehighlight in diesem Jahr!

Dienstag, 9. Juli 2024

Lukas Hartmann: Martha und die Ihren

Leserunde auf whatchaReadin

Lukas Hartmann erzählt in seinem neuen Roman die Geschichte seiner Großmutter väterlicherseits: "Martha und die (der) Ihren."

Zunächst steht die junge Martha im Mittelpunkt des Geschehens. Da ihr Vater früh verstirbt und ihre Mutter die Familie mit den 6 Kindern nicht alleine ernähren kann, werden diese auf andere Bauernhöfe verteilt. Anfang des 20. Jahrhunderts war das in der Schweiz, die Geschichte spielt in einem kleinen Dorf in der Nähe Berns, übliche Praxis. Martha wird ein sogenanntes Verdingkind - eine Schmach, die ihr ganzes Leben bestimmt.

Sie kommt zu einer Familie mit 5 Kindern und muss sich hintenan stellen - eine winzige Schlafkammer, kaum genug zu essen, zudem muss sie auf Severin aufpassen. Wahrscheinlich leidet er an Trisomie 21 und überfordert Martha, die nicht weiß, wie sie mit ihm umgehen muss. Eigentlich eine Zumutung. Gegen alle Widerstände setzt sie sich durch und beginnt in der Spinnerei zu arbeiten - ist fleißig und gönnt sich keine Pausen. Ihre größte Angst ist wieder arm zu werden, sie setzt alles daran, um zu etwas Wohlstand zu gelangen.

Als sie selbst Mutter wird, leidet der kleine Toni unter ihrem Arbeitseifer. Toni ist der Vater des Autors, wobei dieser die Namen seiner Familie bis auf "Martha" geändert hat, wie er im Nachwort erklärt. Statt Toni Liebe und Zuneigung zu schenken, muss Martha für ihre Familie sorgen, da ihr Mann erkrankt ist, so dass sie die Schusterarbeiten nebst Haushalt mit übernehmen muss.

In ihrer Geschichte spiegelt sich vor allem auch die Last wider, die auf den Frauen gelegen hat. Martha durfte nur heimlich arbeiten, da die Bauern Schuhe, geflickt von einer Frau, die das Handwerk nicht gelernt hat, nicht angenommen hätten. Hinzu kommt die schwierige politische Situation, im Rest Europas herrscht Krieg und auch die neutrale Schweiz ist von der Lebensmittelknappheit betroffen. 

Der Preis, die Armut zu besiegen, bringt auf Seiten Marthas zwar unbedingten Arbeitseifer, Fleiß und Geschick mit sich, allerdings auch ein Zurückstecken aller persönlichen Wünsche und Träume. Es ist unglaublich, was diese Frau alles geleistet hat - gleichzeitig ist sie nicht in der Lage, ihren Kindern Liebe oder auch nur Wärme und Lob zu schenken. Sie selbst hat es nicht erfahren, wie soll sie es weitergeben.

Dieser Mangel bestimmt auch Tonis Leben, der ebenfalls unfähig ist, seinen Sohn Bastian (= Lukas Hartmann) zu loben, ihm seine Liebe zu zeigen. Auch Toni schuftet, um finanziellen Wohlstand zu erreichen, ohne seine eigenen Bedürfnisse und Interessen zu berücksichtigen. Erst Bastian kann sich aus dieser Spirale befreien.

Der Roman zeigt sehr deutlich, wie sich Marthas Lebensumstände auf die nächste und auch noch die übernächste Generation auswirken. Zwar hätten ohne ihren Arbeitswillen ihre Kinder vielleicht das gleiche Schicksal erlitten wie sie selbst, doch die psychischen Auswirkungen der mangelnden Aufmerksamkeit begleiten sie lebenslang und sie geben diese Erfahrungen weiter.

Sehr authentische Figuren, allerdings bleiben sie distanziert. Der Autor wählt eine sehr nüchterne, sachliche Sprache und rafft auch große zeitliche Abschnitte, um alle drei Generationen darstellen zu können. So habe ich den Roman mit Interesse gelesen, ohne wirklich in die Geschehnisse emotional involviert zu sein.

Die Frage, inwiefern das Schicksal meiner Vorfahren mein eigenes bestimmt, beantwortet Hartmann für seine Familie väterlicherseits allerdings sehr glaubwürdig.