Montag, 18. Juli 2016

Annika Scheffel: Bevor alles verschwindet

- ein märchenhafter Roman über den Untergang eines Dorfes.

Buchdaten:

Taschenbuch: 411 Seiten

Verlag: Suhrkamp Verlag

Erschienen am: 8.Mai 2016

ISBN-13: 978-3518466773

Vielen herzlichen Dank an den Suhrkamp Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.


Inhalt
Der Roman beginnt "später", ungefähr 10 Jahre nach der Flutung eines kleinen Dorfes. Das Kreuz der ehemaligen Kirche ragt gespenstig aus dem entstandenen See heraus und Jula verabschiedet sich von Jules, der als "Geist" erscheint und zurück in den See geht. Ein unheimlicher Start, der die Frage aufwirft, wie es zu der Überflutung und zum Tod Jules gekommen ist.

Danach springt die Handlung zurück, bis zur Verkündung der Flutung. Dort, wo sich das Dorf befindet, soll ein See entstehen. Der kleine Fluss "Traufe" mithilfe einer riesigen Mauer gestaut werden, so dass Strom gewonnen und ein Erholungs- und Freizeitzentrum in der strukturschwachen Region entstehen kann. Doch die Bewohner sind nicht willens das kleine Dorf zu verlassen, obwohl sich das Unausweichliche schon vor langer  Zeit angekündigt hatte und nur wenige geblieben sind.

Im Mittelpunkt dieser märchenhaften Geschichte stehen die Figuren des Ortes, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist, in denen sie und ihre Geschichte besonders im Mittelpunkt stehen. Innerhalb der einzelnen Kapitel, die von sechs Monaten vor bis zur Flutung selbst erzählen, wechselt die personale Erzählperspektive häufig, so dass immer alle Protagonisten im Blickfeld bleiben.

In der Rückblende steht zunächst Mona - im Fokus:

"Mona Winz, die davon träumt, eines Tages unsterblich zu sein, die sich nach ihrem gescheiterten Fluchtversuch vor fast zehn Jahren geschworen hat, für immer zu bleiben, und die in ein paar Monaten verschwunden sein wird, hat es als Erste erfahren: Mona begegnet dem Weltuntergang zuerst." (S.15)

Mona ist fünfzig Jahre alt, nachdem ihre Mutter gestorben ist, lebt diese weiterhin in Monas Bewusstsein, so dass Mona im Eintopf Schinkenwürstchen isst, obwohl sie davon würgen muss.
Die Hoffnung auf die Liebe hat Mona aufgegeben, bis die Verantwortlichen für die Flutung vorbeikommen. Sie wird vom Auto jener erfasst, angefahren und verliebt sich in den Verantwortlichen Nummer 1. Ihr Haus wird das erste sein, dass der Abbruchbirne zum Opfer fällt und sie die erste, die den Ort und die Schatten ihrer Mutter endgültig hinter sich lässt.

Im Ort streift ein blauer Fuchs umher, den die kleine Marie zuerst bemerkt.
Neben diesem Fabelwesen sehen einige Besucher des Dorfes einen Jungen namens Milo, der in engem Zusammenhang mit David steht und am Tag der Verkündigung zum ersten Mal von diesem bemerkt wird. David ist der Sohn des Bürgermeisters Martin Wacholder, dessen Frau Anna vor vielen Jahren den Ort verlassen und niemals wiedergekehrt ist. Wacho - wie er von allen genannt wird - gibt die Hoffnung nicht auf, dass sie zurückkommt und will mit allen Mitteln verhindern, dass David ihn verlässt. Mit der bevorstehenden Flutung, die Anna die Möglichkeit nimmt ihren Mann wiederzufinden, kehrt seine Wut zurück und so misshandelt er David und sperrt ihn ein, obwohl David zu Milo möchte.
Ist Milo das Alter Ego des verängstigten, stillen Jungen? Milo spricht nicht, er "trifft" sich mit David in einem verlassenen Haus, bis David das Rathaus nicht mehr verlassen darf. Von da an sitzt Milo stumm auf den Stufen - Tag und Nacht - als Mahnung für David und Wacho? Ihn gehen zu lassen? David endlich die Freiheit zu schenken? Ist er Davids Chance auf ein neues Leben?

"Milo verkörpert das Vermissen." (S.314).

Greta Mallnicht sieht in Milo ihren verstorbenen Ehemann Ernst, mit dem sie früher immer Motorrad gefahren ist - durch ganz Europa und darüber hinaus. Ihr Wunsch ist es, mit ihm gemeinsam beerdigt zu sein, bevor die Gräber versiegelt werden. Das ist ihr Plan.

Robert Schnee ist der Schauspieler des Ortes, verheiratet mit Clara, der ortsansässigen Ärztin, die die Praxis von ihrem Vater übernommen hat und eigentlich nicht bleiben möchte. Robert möchte ein Proteststück inszenieren, das er unaufhörlich probt, seine Zuschauerin dabei ist seine fünfjährige Tochter Marie. Einerseits will Robert sich auflehnen, findet jedoch weder Worte noch Taten dafür und kooperiert schließlich sogar mit einem Fernsehteam, das den Abriss eines Hauses filmt. Er hat Angst aufzubegehren.
Seine Tochter Marie lebt in ihrer eigenen Fantasiewelt, sie ist es, die den blauen Fuchs immer sieht und allen davon erzählt - ein Symbol zweifelsohne. Der blaue Fuchs beißt die Gelbhelme, die Bauarbeiter, die den Ort sukzessive zerstören, so dass Clara sie gegen Tollwut impfen muss.

Fehlt noch die Familie Salamander: Jeremias, der Vater der Zwillinge Jula und Jules, ist einer der wenigen, die vor dem Jahrhundertfest, das viele Schaulustige anlockt, den Ort verlassen und den Bau des neuen Hauses im neuen Ort überwachen. Seine Frau Eleni, Besitzerin der Bäckerei vor Ort, bleibt mit den Zwillingen.
Jula arbeitet bis zur Schließung in der Bäckerei und freundet sich mit einem Gelbhelm an, Jules trägt die Post aus und die Beziehung zwischen den beiden ist für ihr Alter - sie sind 18 - ungewöhnlich eng. Mit der Flutung des Ortes zerbricht sie...
Eleni kann den Ort auch noch nicht verlassen, auch sie würde jemanden vermissen und möchte ihn nicht zurücklassen. Auch sie hat Angst vor Veränderungen:

"Es wird nie wieder so sein wie jetzt, wir werden nie wieder vollständig sein." (S. 205)

So bleiben sie, bis ein Haus nach dem anderen zerstört ist und Jules einen letzten Protest wagt.

Bewertung
Die Handlung, die nur langsam weiterfließt und sich langsam der Flutung nähert, steht in diesem außergewöhnlichen Roman nicht im Vordergrund. Es sind diese skurrilen Menschen mit ihren vielfältigen ungelösten Problemen, die an den Ort gebunden sind und die es ihnen nicht erlauben weiterzuziehen. Denn ein Neuanfang ist nur möglich, wenn der Ballast abgeworfen wird.
Dazu scheint Greta ebenso wenig bereit wie Wacho - wie soll ihn seine Frau denn im neuen Ort finden?
Wie kann David die Kraft aufbringen, seinen gewalttätigen Vater, der ihn zeit seines Leben klein gehalten hat, zu verlassen und mit Milo neu beginnen, den die Verantwortlichen gar nicht sehen?
Wie kann Jules Jula gehen lassen, die doch für ihn alles ist?

Der Roman zeigt sensibel und auf sprachlich eindringliche Art und Weise die Ängste der Menschen vor der Veränderungen auf. Wie schwierig es ist, Gewohntes und Erinnerungen hinter sich zu lassen, entwurzelt zu werden und woanders ein neues Leben zu beginnen. Und er führt uns vor Augen, dass
die Toten einen Ort brauchen, an dem sie lebendig sind. Und dass die bevorstehende Flutung Besucher anzieht, die sich am Unglück der anderen weiden - Katastrophentourismus.

Es ist eine Geschichte, die hinter die Wirklichkeit blickt. Jula sagt über ihren Gelbhelm, den Vogelmann am Schluss:

"Anton nimmt Geschichten, Wünsche, Ängste und Träume so ernst wie die Wirklichkeit." (S. 411)

Das tut dieser Roman auch, zu dem ich erst einen Zugang finden musste, der mich dann aber, nachdem ich mich auf die Symbolik und Absurdität eingelassen habe, zunehmend fasziniert hat und der tatsächlich auch komische Szenen aufweisen kann.

Sicherlich keine leichte Kost, ein sehr anspruchsvoller Roman, aber absolut lesenswert!