Dienstag, 15. August 2017

Ian McEwan: Der Zementgarten

Gestörte Jugend


Taschenbuchausgabe, 208 Seiten
Diogenes, 2. Januar 1999


Die Originalausgabe erschien bereits 1978, "The Cement Garden" ist McEwans erster veröffentlichter Roman.

In der Leserunde auf whatchareadin gab zu "Der Zementgarten" einigen Diskussionsstoff. Wer die Beiträge verfolgen will, klickt hier.

Freundlicherweise wurde mir das Buch vom Diogenes Verlag als Leseexemplar zur Verfügung gestellt.



Inhalt
Die Handlung wird aus der Ich-Perspektive des fast 14-jährigen Jack erzählt.

"Ich habe meinen Vater nicht umgebracht, aber manchmal kam es mir vor, als hätte ich ihm nachgeholfen. Und bis auf die Tatsache, daß sein Tod zeitlich mit einem Meilenstein in meiner eigenen körperlichen Entwicklung zusammenfiel, schien er unbedeutend, verglichen mit dem, was dann kam." (S.5)

Niemand aus der Familie scheint dem Vater, der beim Zementieren gestorben ist, wirklich nachzutrauern. Jack sagt über ihn, er sei ein "schwächlicher, jähzorniger, verbohrter Mann" (S.5), vor dem die Kinder - Julie, (16 Jahre), Sue, die jüngere Schwester und der 6-jährige Tom Angst haben, und der mit seinem jüngsten Sohn um die Gunst der Mutter konkurriert. Die Familie scheint völlig isoliert, Verwandte gibt es keine mehr und Freund*innen dürfen nicht ins Haus gebracht werden. In der Umgebung stehen vorwiegend abrissreife Häuser - Tristesse.
Seit der Vater Halbinvalide ist, kann er sich nicht mehr um seinen Steingarten kümmern, der nur wenige Blumen enthält, und diese müssen strikt angeordnet sein - keine Platz zum Spielen, kein Ort, um kindliche Kreativität auszuleben. Also soll der Garten einzementiert werden, die fantasieloseste Lösung. Während der Arbeit, bei der ihm Jack hilft, erleidet der Vater einen Herzinfarkt und fällt mit dem Kopf in den frischen Zement - er ist tot.

"Als der Krankenwagen fort war, ging ich nach draußen, um unseren Pfad anzuschauen. Ich hatte keinen Gedanken im Kopf, als ich das Brett aufhob und Vaters Abdruck in dem weichen, frischen Zement sorgfältig wegglättete." (S.22)

Trauer empfindet Jack keine, im Gegenteil, der Vater wird aus den Gedanken ausradiert. Seine Aufmerksamkeit gilt seiner älteren Schwester, die seine sexuelle Fantasie beflügelt und die er sich beim Onanieren vorstellt. Eine Tätigkeit, auf die ihn die Mutter in einem peinlichen Gespräch anspricht und ihm unterbreitet, er schade seiner Gesundheit.

"Jedesmal...wenn du das tust, brauchst du zwei Liter Blut, um es wieder zu ersetzen." (S.38)

Darüber hinaus nimmt Jack seine ruhige, stille Mutter, die in ihrer Schwäche dem Vater nichts entgegensetzen konnte, kaum wahr.
Einige Zeit nach dem Tod des Vaters wird die Mutter krank, bis sie schließlich stirbt. Vorher instruiert sie Jack, er solle gemeinsam mit Julie die Familie zusammenhalten, Verantwortung übernehmen.
Was in der Konsequenz bedeutet, dass die Kinder, den Tod der Mutter in der Öffentlichkeit geheim halten müssen - sie zementieren sie im Keller ein.
Es gibt wenige berührende Szenen im Roman. Die Situation, wenn die Kinder die Mutter in ein Laken hüllen, um ihre Leiche zu "begraben" ist eine davon:

"Als wir sie auf das Laken niederlegten, sah sie so gebrechlich und traurig aus in ihrem Nachthemd, vor unseren Füßen liegend wie ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel, daß ich zum erstenmal über sie weinte und nicht über mich." (S.92)

Es gelingt den Kindern über die Ferien ihr Geheimnis zu bewahren, auch als Julies Freund Derek auftaucht, der mehr an dem Haus, als an Julie interessiert scheint und willens ist, die Rolle des "Familienoberhaupts" zu übernehmen. Eine Rolle, die Jack nicht aus der Hand geben will und der sich mit Julie fast in eine Art Mutter-Vater-Situation gebracht hat. Sue hält sich weitgehend aus allem heraus und schreibt ihre Gedanken nieder, ihrer Tagebuchaufzeichnung ist es zu verdanken, dass die Leser*innen auch einen Außenblick auf Jack erhaschen, der seine Hygiene seit dem Tod der Mutter eingestellt hat - bis ein fauliger Geruch aus dem Keller steigt....

Bewertung
Ian McEwan sagt in einem Interview über "Der Zementgarten", dass er die Abgründe der Jugend sezieren wollte. Das ist ihm hervorragend gelungen.
In der Familie herrschen verstörende Beziehungen und Verhaltensweisen. Die Doktorspiele zwischen Julie, Sue und Jack sind ebenso befremdend wie Julies und Sues Versuche aus Tom eine kleines Mädchen zu machen. Da die Familie so abgeschottet ist, der Vater dominant und kaltherzig, die Mutter schwach, scheinen die Kinder Liebe und Zuneigung nur untereinander zu finden. Andererseits geht es oft um Macht und wer als Gewinner aus der Konfrontation hervorgeht.
Tom, als das schwächste Familienmitglied wird Opfer des Machtmissbrauchs. Indem er wieder in infantile Verhaltensmuster verfällt, erhält er zwar Aufmerksamkeit, andererseits wird früh ins Bett geschickt, muss tun, was Julie und Jack sagen.
Die vermeintliche Freiheit der Kinder entpuppt sich als Trugschluss. Jack äußert gegenüber Julie, es sei ihm, als ob er schlafe (S.199). Und genau so liest es sich, wie ein zähflüssiger Alptraum und man wünscht sich, dass diesem Traum von außen ein Ende gemacht wird. Denn wirklich glücklich ist keiner der Kinder. Jack onaniert, um die Gegenwart zu vergessen, Tom flüchtet sich in sein Kleinkindverhalten, Sue in ihre Gedankenwelt und Julie in eine vermeintliche Liebesgeschichte.
Beziehungen sezieren, das wolle er, sagt Ian McEwan ebenfalls in dem Interview. "Der Zementgarten" ist dieser Hinsicht messerscharf.