- drei Etagen, drei Geschichten, ein Roman?
Leserunde auf whachtaReadin
In der Diskussion hat uns eine der Teilnehmerinnen darauf aufmerksam gemacht, dass Nevo seinem "Roman" das psychoanalytische Modell Freuds zugrunde gelegt hat.
"Ein Seelenhaus mit seinen drei Etagen existiert in uns überhaupt nicht! Diese drei Etagen sind in der Luft zwischen uns und jemand anderem, im Abstand zwischen unserem Mund und dem Ohr desjenigen, dem wir unsere Geschichte erzählen." (315)
Drei Menschen, die in einem Haus wohnen, erzählen einer anderen Person von einem Ereignis, das ihr Leben auf den Kopf stellt. Drei Etagen, die für "Es", "Ich" und "Über-Ich" stehen, deren Geschichten jedoch nur lose miteinander verknüpft sind, so dass es sich eher um drei Erzählungen handelt, die aufgrund des theoretischen Überbaus miteinander verzahnt sind.
Erste Etage - "Es"
Arnon und Ayelet geben ab und zu ihre Tochter Ofri zu den Nachbarn Ruth und Hermann, einem älteren Rentnerpaar.
"Das sind ja höfliche, kultivierte Menschen, richtige Jeckes, er läuft zu Hause in Anzug und Kravatte rum, und sie ist Klavierlehrerin am Konservatorium, verwendet Ausdrücke wie gütigst." (10)
Arnon ist der Ich-Erzähler dieser Episode und spricht zu einem befreundeten Schriftsteller über ein Ereignis, das ihn sehr belastet.
"Die Anzeichen waren die ganze Zeit da gewesen, aber ich hab´s vorgezogen, sie zu ignorieren. Was ist praktischer als Nachbarn, die dir auf deine Tochter aufpassen?" (9)
- wenn man mal übereinander herfallen will. Als die zweite Tochter geboren wird, die unter gesundheitlichen Problemen leidet, benötigen die beiden Ruth und Hermann noch häufiger, obwohl bei Hermann deutliche Anzeichen von Demenz zu erkennen sind. Die sensible Ofri bemerkt es als Erstes und stellt fest: "Hermann ist kaputtgegangen." (16)
Arnon beschließt, dass Ofri nicht mehr allein bei Hermann bleiben kann. Es scheint, als ob er sich mehr Sorgen um sie macht als ihre Mutter. Das Verhältnis der beiden beschreibt Arnon als gespannt.
Doch dann muss er dringend zu seinem Spinning-Kurs, obwohl Ayelet noch nicht zuhause ist. Ofri bleibt bei Hermann und beide verschwinden - sie werden wohl behalten aufgefunden, doch Arnon vermutet, dass etwas geschehen ist.
Er lässt sich von seinen "Trieben" - Zerstörung und Sex - leiten und handelt völlig irrational, das Ende der Geschichte bleibt offen...
Zweite Etage - "Ich"
Chani, Mutter zweier Kinder, Liri und Nimrod, ist die Protagonistin der zweiten Geschichte. Sie schreibt einen Brief an ihre beste Freundin, die in den USA lebt. Seit der Geburt ihres zweiten Kindes ist Chani zuhause und fühlt sich allein. Sie glaubt, dass ihr Mann Assaf, der fast immer auf Geschäftsreisen ist, weswegen sie im Haus auch die "Witwe" genannt wird, sie nicht genügend unterstützt. Dafür führt sie zahlreiche Beispiele an, lässt aber auch fiktiv Assaf zu Wort kommen. Diese Passagen hören sich viel realistischer an, so dass man unsicher ist, wem man glauben kann.
Offenkundig ist sie in ihrer Mutterrolle unglücklich:
"Es gibt Lichtblicke, Glücksmomente, aber alles in allem laufe ich jetzt schon seit acht Jahren als wandelnde Sprengfalle durch die Gegend - ja, das ist das richtige Bild-, schleppe den Sprenggürtel meiner Hoffnung mit mir herum, die Aufgabe meistern zu können, an der meine Mutter gescheitert ist." (149)
Ein unvorhergesehenes Ereignis verändert Chanis Leben und ihre Ich-Identität. Assafs Bruder Eviatar, mit dem er keinen Kontakt hat, bittet sie um Hilfe. Er ist ein Immobilienmakler und hat sich verzockt. Jetzt wird er von seinen Gläubigern und der Polizei gesucht, trotzdem hilft ihm Chani. Warum? Weil er einen Draht zu den Kindern hat? Existiert Eviator wirklich, oder hat sich Chani, die permanent Angst hat, wie ihre Mutter verrückt zu werden, ihn nur erfunden?
An ihrer Freundin bewundert sie, dass sie eine "innere Ruhe [habe]. Die Ruhe einer Frau, die ihre Feld auf dem Schachbrett des Lebens gefunden hat." (125)
Dritte Etage - "Über-Ich"
In der letzten Episode steht die pensonierte Richterin Dvorah im Mittelpunkt, die ihre Geschichte auf eine Anrufbeantworterin (!) spricht, auf der die Stimme ihres verstorbenen Mannes zu hören ist. Das ist ihre Art mit ihm in Kontakt zu treten, ihm von den ungewöhnlichen Ereignissen ein Jahr nach seinem Tod zu erzählen.
Man erhält einen kurzen Einblick in die Geschehnisse im ersten und zweiten Stock, aber es gibt keine weitreichende Verbindung zwischen den Geschichten. Diese besteht in der räumlichen Nähe der Protagonisten, dem psychoanalytischen Ansatz und den Ereignissen, die jeweils das Leben der Ich-Erzähler*innen verändern.
Zu Dvorah: Sie sieht im Fernsehen, dass junge Menschen Zelte in Tel Aviv aufstellen, um gegen die Wohnungspreise zu demonstrieren. Kurzentschlossen macht sie sich auf den Weg, wird jedoch in der Menschenmenge ohnmächtig. Sie landet im Zelt einer jungen Frau, die sich um sie kümmert und als bekannt wird, dass sie juristischen Beistand leistet, ist sie eine gefragte Person. Über die junge Frau lernt sie den Geschäftsmann Avner Ashdot kennen, der ihr anbietet, ihre Wohnung im Gegenzug zu einer in der Innenstadt zu kaufen. Zuerst muss sie sich jedoch von ihrem "Über-Ich" befreien, der Meinung ihres Mannes, die sie in ihrem Kopf hört. Lange haben sie alles gemeinsam entschieden und Dvorah erkennt, dass er sie in manchen Entscheidungen überstimmt hat, aber auch, dass sie sich von ihm löst.
"Und dann spüre ich eine Leerstelle dort, wo du gewesen bist. Spüre, dass die ganze Wohnung eine Leerstelle ist für den Ort, an dem wir wir waren. Und dass ich, wenn ich hier wohnen bleibe, mich in den Spinnfäden deines Todes verfangen werde, die sich um mich herum ausbreiten, bis ich wie ein Insekt darin verende." (226)
Diese Geschichte, die mir am besten gefallen hat, erzählt von einem Aufbruch, von dem Versuch dem Leben auch im fortgeschrittenen Alter eine neue Richtung zu geben, aber auch von der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit - denn Dvorah hat einen erwachsenen Sohn, zu dem sie keinen Kontakt mehr hat.
Fazit?
Auch wenn die Erzählungen meines Erachtens stärker hätten verbunden sein können, damit man wirklich von einem Roman sprechen kann, gefällt mir die Idee, sie thematisch zu verknüpfen. Für sich gesehen erzählt jeweils ein Mensch von einschneidenden Erlebnissen in seinem Leben, die diesem eine neue Richtung geben werden. So ist jede Geschichte lesenswert, wenn auch die letzte allen in der Leserunde am besten gefallen hat.
Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 318 Seiten
dtv, 12. Januar 2018