Samstag, 16. Juni 2018

Michael Chabon: Moonglow

- Memoiren des Großvaters...

Kleine Leserunde auf whatchareadin

Diesen Roman hat mir meine Buchhändlerin aus der Bücherhütte empfohlen und da sie meinen Geschmack inzwischen sehr gut kennt, habe ich zugegriffen und mich auf diese ungewöhnliche Geschichte eingelassen. Da Anne Parden im Rahmen einer Leserunde auf whatchaReadin, Thema USA, Interesse an dem Roman gezeigt hat, haben wir beschlossen ihn gemeinsam zu lesen.

Vor dem Beginn der Handlung merkt der Autor an, dass er sich beim Schreiben der Memoiren seines Großvaters an die Fakten gehalten hat, es sei denn, "sie wollten sich einfach nicht der Erinnerung, dem dichterischen Willen oder der Wahrheit, wie ich sie gerne verstehe beugen." (11) In dem Fall hat er sie "mit der entsprechenden Hemmungslosigkeit" (11) verändert.

Diese Bemerkung macht neugierig, was erwartet uns beim Erzählen der Lebensgeschichte seines Großvaters?

Der Ich-Erzähler, der Autor selbst oder eher die Person, die uns der Autor als sein "Ich" präsentiert, erzählt die Geschichte nicht chronologisch, obwohl sein Großvater ihn darum gebeten hat:

"Auf jeden Fall ist es eine ziemlich gute Story", sagte ich. "Das musst du zugeben." "Ja?" Er zerknüllte das Kleenex, nachdem er die Träne weggetupft hatte. "Kannst du haben. Schenke ich dir. Wenn ich nicht mehr da bin, schreib sie auf. Erkläre alles. Sorg dafür, dass sie etwas bedeutet. Bau deine ganzen ausgefallenen Metaphern ein. Bring alles in die richtige zeitliche Reihenfolge, nicht dieses Durcheinander, das ich dir erzähle." (284)

So startet die Handlung konsequenterweise nicht mit der Geburt des Großvaters, sondern mit dem 25.Mai 1957. An dem Tag unternimmt er einen tätlichen Angriff auf seinen Chef, den Inhaber von Feathercombs Inc., weil er entlassen werden soll. Eine unbändige Wut ergreift ihn, die niemand dem ansonsten sehr ruhigen Mann zugetraut hätte. Ein furioser und sehr komischer Beginn.

Der Ich-Erzähler berichtet im Anschluss, wie er zu den Erinnerungen seines Großvaters gelangt ist, der an seinem Lebensende im November 1989 aufgrund seiner Knochenkrebs-Erkrankung ein starkes Hydromorphon erhält, das ihn offenkundig gesprächig macht:

"Aus ihm sprudelte nur so eine Bilanz seiner Missgriffe, seines fragwürdigen Glücks, seiner Leistungen und Pleiten durch schlechtes Timing und versagende Nerven. Schon seit fast zwei Wochen lag er im Gästezimmer meiner Mutter, und als ich endlich in Oakland eintraf, bekam er annähernd zwanzig Milligramm am Tag. Er begann quasi in dem Moment zu reden, als ich mich auf den Stuhl neben seinem Bett setzte." (18)

Seine Kindheit hat er gemeinsam mit seinen Eltern und seinem Bruder Reynard - Onkel Ray - in South Philadelphia verbracht, das "damals voller Moonblatts und Newmans, jenen Cousins und Cousinen [war], die später die Hochzeiten und Beerdigungen meiner Kindheit und die meiner Mutter bevölkern sollten. Ihre Wohnungen dienten meinem Großvater als Zwischenstation." (21)

Er war ein wildes Kind, das die ihm gesetzten Grenzen ständig unterlief und tat, was es wollte.

Im folgenden Kapitel erinnert sich der Ich-Erzähler an seine eigene Kindheit, daran, wie er seine Großeltern, die in der Bronx lebten, besucht hat. Sein Großvater ist Ende der 60er Jahre mit seiner Firma, die maßstabsgetreue Modelle für die Raumfahrt herstellt, sehr erfolgreich - die Begeisterung für den Mond - "Moonglow" - für Raketen und die Raumfahrt sind eines der Schlüsselmotive des Romans. Bis an sein Lebensende baut der Großvater an einem Modell einer Mondstation, zu der er seine Familie bringen möchte, um sie zu beschützen.

Die Großmutter des Ich-Erzählers erscheint liebevoll, aber manchmal auch beängstigend, wenn sie mithilfe ihrer französischen Wahrsagekarten für Hexen eine Geschichte erfindet. Zudem wird sie von Depressionen heimgesucht und hat eine Tätowierung auf dem linken Unterarm...

"Sie war ein Gefäß, gebaut, um den Schmerz ihrer Vergangenheit zu tragen, doch das Gefäß hatte einen Riss, und durch den sickerte strahlende Dunkelheit heraus." (120)

Sie stammt aus Frankreich, wo sie sich als Jüdin im besetzten Frankreich mit ihrem Kind, der Mutter des Ich-Erzählers, in einem Kloster versteckt musste, da ihre Familie - bekannte jüdische Pferde- und Fellhändler - sie verstoßen hatten. Ihr Mann, ein Katholik, wurde ermordet, ihre Familie in Auschwitz vergast. Nach dem Krieg emigriert sie in die USA, wo sie den Großvater im Jahr kennengelernt hat, der somit nicht der leibliche Großvater des Ich-Erzählers ist.

Verschiedene Erzähllinien kristallisieren sich im ersten Teil heraus, die dann mit Zeitsprüngen weitergeführt werden. Gleichzeitig werden Fragen aufgeworfen, die erst in den letzten Kapiteln eine Antwort finden.

Die Rahmenhandlung bildet einerseits das Gespräch des Ich-Erzählers mit dem Großvater 1989, während dieser im Sterben liegt, sowie mehrere Gespräche mit der Mutter in dieser Zeit.
Eine weitere Zeitebene, die nur wenige Episoden umfasst, spielt Anfang des neuen Jahrtausend, wenn sich der Ich-Erzähler entscheidet, aus der Story seines Großvaters einen Roman zu schreiben und weitere Recherchen anstellt.

Eine Erzähllinie führt vom Anschlag auf seinen Chef im Jahr 1957 hin zum Gefängnisaufenthalt und den Folgen, die sich daraus für ihn und seine Familie ergeben.

Seine Militärzeit, die mit der Verpflichtung am 8.12.1941 startet, und seine Rolle beim amerikanischen Geheimdienst führt ihn 1944 nach Deutschland, wo er mit Wernher von Braun und dessen Rolle bei den Nationalsozialisten in Berührung kommt. In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie seine Bewunderung für den Erfinder der V2 in Hass umschlagen konnte, der so stark ist, dass er keine Modelle der Raketen gebaut hat, die von Braun in den USA mit entwickelt hat.

Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg lernt er im Februar 1947 die Großmutter kennen. Diese Erzähllinie schildert ihre ersten Treffen, ihre Karriere als Vorleserin gruseliger Geschichten im Fernsehen von 1948-52 bis zu ihrem ersten Ausraster, in der ein gehäutetes Pferd, das ihr regelmäßig erscheint, eine wichtige Rolle spielt - ein zweites Schlüsselmotiv des Romans.
Gleichzeitig fällt in diese Phase der berufliche Niedergang des Großvaters, der mit jenem Wutausbruch im Jahr 1957 seinen Höhepunkt findet.
Erst nach dem Gefängnisaufenthalt macht er sich einen Namen als Modellbauer für Raketen und Raumfähren.

Ein Teil der Handlung spielt in Florida, ebenfalls 1989, wo der Großvater seit Mitte der 70er - nach dem Tod der Großmutter - in einer Wohnanlage für ältere Menschen lebt, während er Modelle für private Sammler und die NASA baut. Dort lernt er Sally Sichel kennen. Beim Versuch ihren entlaufenen Kater vor einer Schlange zu retten, entspinnt sich ein neuer Faden.

Zusammen ergeben sie die Lebensgeschichte eines ruhigen Mannes, der Wut in sich trägt, aber auch den Wunsch, diejenigen, die ihm am Herzen liegen, zu beschützen.

Bewertung
Zu Beginn hatte ich einige Probleme in die Geschichte hinein zu kommen, da die Episoden mit ihren Zeitsprüngen mich verwirrten. Erst im Verlauf kristallisierten sich für mich die verschiedenen Handlungslinien heraus und allmählich setzten sich das spannende und interessante Leben des Großvaters einerseits und das der Großmutter andererseits wie ein Puzzle zu einem Ganzen zusammen. Die letzten Hundert Seiten halten dann einige Überraschungen bereit, vor allem das Nachwort wirft ein neues Licht auf den ganzen Roman ;)

Am interessantesten  waren für mich die Episoden, die sich mit Wernher von Braun, dem Erfinder der V2-Rakete, beschäftigt haben. Der Autor hat gründlich recherchiert und die Lebenslüge des SS-Sturmbannführers geschickt mit der Geschichte des Großvaters verknüpft. Unglaublich, dass von Braun, der als Leiter der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, KZ-Insassen unter menschenunwürdigen Bedingungen hat arbeiten lassen und damit in den Häftlingseinsatz verwickelt war, in den USA bei der NASA hat Karriere machen können und mit zahlreichen internationalen Ehren überhäuft wurde. Erst in den vergangenen Jahren fand eine intensive Auseinandersetzung mit seiner Rolle im Nationalsozialismus statt. Insofern liefert dieser Roman auch einen Beitrag gegen das Vergessen - auch was die Geschichte der Großmutter betrifft.

Daneben überzeugt er durch seinen Humor und die kurzweiligen Episoden aus dem Leben des Großvaters, die mich oft zum Lachen gebracht haben. Man muss sich nur auf das Chaos zu Beginn einstellen, dann liest sich der Rest von allein.