Freitag, 1. Juni 2018

Gerbrand Bakker: Oben ist es still


Nachdem ich die Autobiographie von Gerbrand Bakker, "Jasper und sein Knecht", im März gelesen habe, bin ich neugierig auf diesen holländischen Autor geworden, der mit seinem Roman "Oben ist es still" den renommierten International DUBLIN Literary Award gewonnen hat.

In seiner Biographie erzählt er, welche Szenen er aus dem Roman herausnehmen musste, gleichzeitig liefert er viele Details zur Entstehung und auch Interpretation, so dass mir letztlich nichts anderes übrig blieb, als ihn selbst zu lesen.
Eine gute Entscheidung!


Worum geht es?
Helmer van Wonderen, 55 Jahre alt, Besitzer eines kleinen Hofes mit Milchkühen, Schafen, Hühnern und zwei Eseln in der ländlichen, holländischen Idylle, räumt auf.

"Ich habe Vater nach oben geschafft." (9)

Die beiden sind die einzigen Verbliebenen der Familie. Helmers Zwillingsbruder Henk ist kurz vor seiner Heirat mit Riet im Alter von 20 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, die Mutter seit einigen Jahren gestorben.
Henk war eigentlich als Erbe für den Hof vorgesehen, doch nach seinem Tod muss Helmer sein Studium der Literaturwissenschaft in Amsterdam aufgeben und an Henks Platz einnehmen, obwohl er er es eigentlich nicht will.
Jetzt ist der Vater alt und Helmer, aus dessen Ich-Perspektive der Roman erzählt wird, wäre es am liebsten, er würde einfach verschwinden.
Zunächst glaubt man als Leser*in Helmer handle grausam gegenüber seinem Vater, der nur noch mühsam gehen kann und meistens im Bett liegt. Denn er versorgt ihn zu Beginn nur notdürftig oben in seinem Zimmer, während er sich selbst unten neu einrichtet. Die Rückblicke geben jedoch Aufschluss über Helmers Verhalten, über die Gefühle und den Groll, die er gegen seinen Vater hegt, weil er ihm seinen Lebensweg verstellt hat.

"Ich habe mein Leben lang Angst gehabt. Angst vor der Stille und Dunkelheit." (39)

Eine Angst, die er gemeinsam mit seinem Bruder Henk hatte meistern können, doch er bleibt "halb" zurück.

Durch die Ankunft von Riets Sohn, der aus der Ehe stammt, die sie nach Henks Tod geschlossen hat, gerät die fest gefahrene Beziehung zwischen Helmer und seinem Vater in Bewegung. Riets Sohn heißt ebenfalls Henk und er soll auf dem Hof lernen zu arbeiten. Seine Mutter erhofft sich, er werde aus seiner Lethargie gerissen.
Die Begegnung und das Zusammenleben mit Helmer gestalten sich schwierig, der sich eingestehen muss, wie sehr er seinen Bruder vermisst und wie tief ihn getroffen hat, dass der ihn schon vorher für Riet verlassen hat. Er wird aber auch mit seiner Homosexualität konfrontiert, eine Neigung, die er sich, solange der Vater lebt, nicht erlauben kann. Und letztlich muss er einen Weg finden, Frieden mit seinem Vater zu schließen, um selbstbestimmt weiter zu leben.

Bewertung
Wie der Titel es verrät, ist es ein sehr stilles Buch, in dessen Mittelpunkt der Protagonist Helmer sich von seinem Vater, Freud würde sagen: Über-Ich, befreien muss, um seine Triebe ausleben zu können.
Doch das wäre zu kurz gegriffen. Es ist eine komplizierte Beziehung zwischen den beiden. Dem jungen Henk gelingt ein vorurteilsfreier Umgang mit dem Alten, so dass auch Helmer bereit ist, einen Schritt auf seinen Vater zuzugehen. In den Auseinandersetzungen mit Henk erinnert sich Helmer an seinen verstorbenen Zwilling, aber auch an den Knecht Jaap, der lange für seinen Vater gearbeitet hat und der eine besondere Bedeutung für ihn hatte. Das Ende hat mich überrascht, mehr will ich hier nicht verraten.
Wer die Autobiographie gelesen hat, kann einige Parallelen zwischen Helmer und Gerbrand Bakker sehen, so hat auch der Autor selbst einen Bruder verloren, der ebenfalls ertrunken ist. Die Homosexualität Helmers ist mir auch deshalb ins Auge gefallen, weil Bakker in seiner Autobiographie davon erzählt, wie lange er gebraucht hat, sich dazu zu bekennen und auch über seine Romanfigur spricht. Es lohnt sich beides zu lesen ;)

Der Familienroman hat die Erwartungen, die durch die Lektüre der Biographie Bakkers geweckt wurde, noch übertroffen. Die Erzählweise ist unaufgeregt und gewährt einen tiefen Einblick in die Psyche des Protagonisten, der mit 55 Jahren wagt, einen neuen Weg einzuschlagen. Bewegend sind seine Erinnerungen an das innige Verhältnis zu seinem Bruder und das schwierige zu seinem Vater, für den man nur wenig Verständnis aufbringen kann - hat er Helmer doch ein Leben aufgezwungen, das dieser nicht führen wollte und ihn daran gehindert, seine Sexualität auszuleben.

Um Iris Radisch Worte zu zitieren: "Ein wunderbares Buch." (Buchrücken)

Buchdaten
Geschenkausgabe, 395 Seiten
Suhrkamp, 2017

Vielen Dank für das Rezensionsexemplar!