Samstag, 7. September 2024

Daniela Krien: Mein drittes Leben

Leserunde whatchaReadin

Der Roman hat mich sofort eingesogen, liest sich gut und wechselt zwischen der Gegenwart, in der Linda, die Ich-Erzählerin ihr Leben auf einem abgelegenen Hof in einem kleinen Dorf schildert - an diesen Ort hat sie sich ein ihrer Trauer zurückgezogen, nachdem ihre 17jährige Tochter Sonja bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist und sie selbst eine Krebserkrankung durchgestanden hat - und Lindas Erinnerungen.

Erinnerungen, daran, wie sie und ihr Mann Richard sich kennenlernten, daran, dass er bereits aus erster Ehe zwei Kinder hat, Ylvie und Arvid, mit denen Linda nicht warm geworden ist. Umso größer ihr Wunsch ein eigenes Kind mit Richard zu haben: Sonja.
Und da ist auch noch der Wunsch nach einem zweiten Kind.

"Warum bist du nicht auf die Welt gekommen?", flüsterte ich, und es antwortete: "Du weißt, warum." (S.44) Richard wollte nicht noch ein weiteres Kind, als er es dann doch in Erwägung zieht, ist Sonja bereits 6 Jahre alt und Linda nicht mehr bereit dafür und fühlt sich verraten.
"Er hatte uns aus dem Takt gebracht, unseren harmonischen Tanz jäh unterbrochen." (S.57)

Aber auch zuvor stellt Linda fest, dass sie nicht vollständig mit Sonja glücklich ist, da sie das Leben mit Baby zwar zum ersten Mal erlebt, Richard aber bereits zwei Kinder hat - sie wird immer die Zweite sein.
Auch als Sonja älter wird, ist sie "enttäuscht" von der harmoniebedürftigen Tochter, die kaum Ehrgeiz entwickelt und weniger Ecken und Kanten aufweist als ihre Halbgeschwister und zudem noch eine aus der Sicht der anderen problematische Esserin.
Heute macht sich Linda deswegen Vorwürfe, dass sie von Sonja enttäuscht war - kann sich selbst nicht verzeihen.
Richard hat zwei Jahre auf Linda gewartet - so lange lebt sie schon in dem abgelegenen Dorf, bevor er wieder am Leben teilnehmen will.
Natascha, die Linda mit ihrer autistischen Tochter Nine besucht, bringt es auf den Punkt:
"Sie wollen, dass er sich ebenso aufgibt, wie Sie es tun. Aber er lebt weiter. Und das nehmen Sie ihm übel." (S.70)
"Er hat sich gerettet. Auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod hat er sich für das Leben entschieden, während sie versucht haben, ihn zu den Toten rüberzuziehen." (S.71)

Der Roman wirft die schwierige Frage auf, wie weiterleben, wenn man das Kostbarste im Leben verloren hat. Kann und darf man jemals wieder glücklich werden, wenn das geliebte Kind gestorben ist? Wie lange darf Trauer dauern, wie viel Zeit in Anspruch nehmen? Dürfen wir uns anmaßen, darüber zu urteilen?
Linda kämpft sich in winzigen Schritten ins Leben zurück und das schildert Krien authentisch und sehr emphatisch. 
Ein lesenswerter Roman!

Donnerstag, 8. August 2024

Paul Lynch: Das Lied des Propheten

Leserunde auf whatchaReadin

Wie würdest du handeln, wenn sich das demokratische Land, in dem du lebst, zu einem totalitären Staat wandelt und ein Bürgerkrieg ausbricht?

Das ist die Kernfrage, mit der sich der irische Autor Paul Lynch beschäftigt. Zwar verortet er die Romanhandlung nach Irland, aber letztlich könnte sie in jedem demokratischen Land spielen, in dem mittels Notverordnungen demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft gesetzt werden.
Am Beispiel der Mikrobiologin Eilish, deren Ehemann Larry als stellvertretender Gewerkschaftssekretär der Lehrergewerkschaft tätig ist und die gemeinsam vier Kinder haben -
den fast erwachsenen Mark
die pubertierende Molly
den 12-jährigen Bailey und
das Kleinkind Ben -
erzählt Lynch sehr poetisch, welche Auswirkungen ein totalitäres System auf den einzelnen (Durchschnitts-)menschen hat, der mit staatlicher Willkür konfrontiert wird. 

Im ersten Kapitel wird dabei das Szenerio der Bedrohung in dichter metaphorischer Sprache dargelegt. Jeden Satz muss man sorgfältig lesen, damit einem nichts entgeht. Gleichzeitig entsteht Eindringlichkeit durch die vielen Wiederholungen. Auch die kurzen Ellipsen erzeugen ein Gefühl von Dringlichkeit, daneben die langen, verschachtelten Sätze mit vielen Adjektiven, die trotzdem nicht überladen wirken. Die Zeitform Präsens sorgt dafür, dass man quasi am Geschehen teilnimmt.

"Doch da, das Klopfen. Sie hört, wie es ins Denken dringt, das harte, beharrliche Hämmern, ein jedes Klopfen so voll vom Klopfenden erfüllt, dass sie die Stirn runzelt." (9)

Die Klopfenden sind zwei Polizisten der neu gegründeten Geheimpolizei, die ihren Mann sprechen wollen, der jedoch nicht zu Hause ist.
Nachdem sie das Haus verlassen haben, ist "etwas von diesem Dunkel ins Haus gekommen." (S.11)

Erzählt wird hauptsächlich aus der Perspektive Eilishs. Ihre Sicht auf die Ereignisse stehen im Vordergrund, als Leser:innen erfahren wir nicht mehr als sie, d.h. Hintergründe, wie es zur Machtübernahme bzw. der Veränderung hin zu einem totalitären System gekommen ist, bleiben im Dunkeln.
Um für die Verfassungsrechte zu kämpfen, will die Lehrergewerkschaft eine Demonstration veranstalten, an der Larry teilnimmt und von der er nicht wiederkehrt. Eilish erhält keinerlei Informationen, es findet weder eine Haftprüfung statt noch kann der Anwalt der Gewerkschaft etwas ausrichten.
Eilish, die sich um ihren Vater kümmern muss, der zunehmende Anzeichen einer Demenz zeigt, ist mit der  Situation überfordert. Sie bemüht sich die Familie zusammenzuhalten, beruhigt und belügt auch die Kinder und versucht sie zu beschützen, während Irland sich in einen totalitären Staat verwandelt, in der die Bürgerrechte außer Kraft gesetzt werden.
Erst jetzt wird Eilish bewusst, in welchem alltäglichen Glück sie zuvor gelebt haben.

"Das Glück, das in dem Stumpfsinn steckt, wie es indem alltäglichen Hin und Her lebt, als wäre das Glück etwas, was nicht gesehen werden soll, als wäre es ein Ton, den man erst hören kann, wenn er aus der Vergangenheit schallt" (S.50) Eine wunderbare Beobachtung - wie oft nehmen wir unser alltägliches Glück nicht wahr.

Mit jedem Kapitel steigt die Bedrohung. Die Frage, der sich Eilish stellen muss, ist, ob sie ihr Zuhause verlassen oder bleiben soll, in der Hoffnung, dass Larry zurückkehrt.
Dass sie teilweise sehr unvernünftig handelt, wurde ausführlich in der Leserunde diskutiert und die meisten waren der Meinung, dass wir es uns kaum anmaßen können, über sie in dieser Ausnahmesituation zu urteilen. Wie würde ich im Angesicht der Bedrohung handeln? Würde ich aktiv Widerstand leisten oder versuchen meine Familie zu beschützen? Würde ich versuchen, das Land zu verlassen? 

Trotz dieser drängenden Fragen und der zunehmenden düsteren, bedrohlichen Atmosphäre begeistert die Sprache des Romans - trotz einiger schiefer Metaphern oder auch einiger weniger unglücklichen Übersetzungen. Insgesamt ist die Übersetzung dieser dichten, lyrischen Sprache von Eike Schönfeld bewundernswert.

Der Roman regt in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken an, v.a. wie schnell die Entwicklung hin zu einem totalitären Staat vollzogen werden kann und wie lange die Protagonisten dies nicht wahrhaben wollen. Lynch entwirft keine Dystopie, sondern ein mögliches Szenario, das durchaus Realität werden könnte. Er prophezeit, was sein wird, wenn wir nicht achtsam sind. 

Passend auch das Brecht-Gedicht, das dem Roman vorangestellt ist:
In den finsteren Zeiten,
Wird da auch gesungen werden?
Da wird auch gesungen werden.
Von den finsteren Zeiten.

Gerade in dunklen Zeiten braucht es die Stimme der Literatur - auch wenn sie augenscheinlich nicht viel ausrichten kann, ist sie doch ein Zeugnis dessen, was geschieht bzw. was geschehen könnte.

Mittwoch, 10. Juli 2024

Tom Rachmann: Die Hochstapler

Leserunde auf whatchaReadin

Ein grandioser Roman, der das Schreiben und die Schriftstellerei thematisiert, mit Fiktion und Realität spielt und der nebenbei zeitaktuelle Themen, u.a. die Pandemie, unter die Lupe nimmt.

Zu Beginn - ein Inhaltsverzeichnis, das darauf hindeutet, dass wir mehrere kleinere Geschichten lesen werden. "Die Autorin" macht den Anfang und beendet den Raum, dazwischen finden sich Kapitel über den Bruder, die Tochter, die Freundin der Autorin, aber über Menschen, die ihr zufällig begegnet sind.
Zwischen den einzelnen Kapiteln oder Geschichten stehen Tagebucheinträge der fiktiven Autorin Dora Frenhofer, in denen sie ihren Erfolg als Schriftstellerin, ihren Schreibprozess, ihre zunehmende Demenz und auch die Situation während der Corona-Pandemie reflektiert. Sie nimmt uns beim Erstellen ihres letzten Manuskripts mit und liefert uns einen Einblick in ihr "reales" Leben. 

Das erste Kapitel beschreibt die Autorin selbst, bzw. die literarische Figur Dora Frenhofer in ihrer beginnenden Demenz, was an den Schreibfehlern deutlich wird und an dem eingebildeten "Senilitätsassistenten", ihrem Lebensgefährten Barry, der offenkundig nicht wirklich existiert.

"Niemand ist oben oder sonst wo im Haus. Nur Dora, die über eine Romanfigur brütet, diesen Ehemann Barry (...) den sie in eine Geschichte eingebaut hat, die, wie die meisten ihrer Geschichten in letzter Zeit, keinen richtigen Sinn ergeben." (S.18)

Im ersten Tagebuch beleuchtet sie die Frage, ob sie den Schriftstellerinnenberuf aufgeben kann und den Schreibprozess selbst. Der Teil ist aus der Ich-Perspektive geschrieben. Interessant ist die Idee, dass der letzte Satz des Tagebuchs den Beginn des nächsten Kapitels darstellt, in dem es um den Bruder der Autorin geht, der 1974 von der Autorin gedrängt wurde, nach Indien zu reisen, um etwas zu erleben.

Großartig schildert Dora Frenhofer das, was ihrem Bruder in Indien geschehen sein könnte und flicht nebenbei die Problematik der wachsenden Bevölkerung anhand der Geschichte einer weiteren Person ein. Beide treffen aufeinander- gut erzählt und teilweise komisch und tragisch. Genau wie das Kapitel über ihre Tochter Beck Frenhofer, die Texte für Comedians verfasst, ohne dass dies jemand wissen darf. Selbst auf der Bühne gescheitert, ist dies ihr Talent. Für andere Gags zu schreiben.

"Sie hat seit Jahren nicht mehr auf der Bühne gestanden und ist in der Öffentlichkeit unbekannt. Trotzdem ist Beck Frenhofer eine der einflussreichsten Comedians ihrer Generation." (S.87)

In diesem Kapitel werden die Auswirkungen des Lockdowns auf die Künstlerszene aufgezeigt, aber auch aktuelle Themen wie Cancel-Culture, Blackfacing und wie "grottenschlechtes" Material viral gehen kann. Wie eine Reaktion eine Gegenreaktion erzeugt.
Stilistisch unterscheidet sich dieses Kapitel extrem vom vorherigen - vom Vokabular, Satzbau, stilistische Mittel. Rachmann tritt meines Erachtens genau den Ton der Szene. Beck glaubt kurzfristig, sie könne eine eigene Karriere beginnen, endlich auf die Bühne treten, doch sie bleibt Regisseurin im Hintergrund.

"Der Käfig ist offen. Das Tier bleibt, wo es ist." (S.117)

Im Tagebuch erinnert sich Dora daran, wie sie Becky das Lesen beigebracht hat.
Hier taucht der Titel explizit zum ersten Mal auf, da Dora steht Angst hatte, literarisch Gebildete könnten sie als "Hochstaplerin" entlarven. (S.122)

Jedes Kapitel hat seinen eigenen Sound, einen für die Figur passenden Stil. Jede Geschichte für sich wirkt sehr realistisch, alle Protagonisten sind authentisch, glaubwürdig gezeichnet. Die Kritik bzw. die Beobachtungen über gesellschaftliche Phänomene und Probleme werden so in den entsprechenden Kontext, in die Geschichte der einzelnen Figuren eingebettet, dass sie "by the way" daherkommen. Keine Belehrung, kein Pädagogisieren, nur Beobachtungen, so dass wir als Leserinnen und Leser uns selbst eine Meinung dazu bilden können.

Hat man das letzte Kapitel gelesen, stellen sich folgende Fragen:
Welcher Teil ist Fiktion der Autorin Frenhof, wo begegnet uns die wahre Dora Frenhofer? In den Tagebucheinträgen, im letzten Kapitel? Welche Figuren sind fiktiv, welche haben als Freunde der Autorin wirklich existiert?
Das Grandiose ist jedoch, dass diese Fragen letztlich nicht wichtig sind, sondern zeigen, welche Wirkung Fiktion entfalten kann. Wie gebannt wir die Geschichten der herausragend gestalteten, authentischen Figuren verfolgen. Jede einzelne Figur und das, was ihr widerfahren ist, könnte es real sein und ist doch fiktiv - im doppelten Sinne ;)

Ein brillanter, intelligenter Roman, ein Lesehighlight in diesem Jahr!

Dienstag, 9. Juli 2024

Lukas Hartmann: Martha und die Ihren

Leserunde auf whatchaReadin

Lukas Hartmann erzählt in seinem neuen Roman die Geschichte seiner Großmutter väterlicherseits: "Martha und die (der) Ihren."

Zunächst steht die junge Martha im Mittelpunkt des Geschehens. Da ihr Vater früh verstirbt und ihre Mutter die Familie mit den 6 Kindern nicht alleine ernähren kann, werden diese auf andere Bauernhöfe verteilt. Anfang des 20. Jahrhunderts war das in der Schweiz, die Geschichte spielt in einem kleinen Dorf in der Nähe Berns, übliche Praxis. Martha wird ein sogenanntes Verdingkind - eine Schmach, die ihr ganzes Leben bestimmt.

Sie kommt zu einer Familie mit 5 Kindern und muss sich hintenan stellen - eine winzige Schlafkammer, kaum genug zu essen, zudem muss sie auf Severin aufpassen. Wahrscheinlich leidet er an Trisomie 21 und überfordert Martha, die nicht weiß, wie sie mit ihm umgehen muss. Eigentlich eine Zumutung. Gegen alle Widerstände setzt sie sich durch und beginnt in der Spinnerei zu arbeiten - ist fleißig und gönnt sich keine Pausen. Ihre größte Angst ist wieder arm zu werden, sie setzt alles daran, um zu etwas Wohlstand zu gelangen.

Als sie selbst Mutter wird, leidet der kleine Toni unter ihrem Arbeitseifer. Toni ist der Vater des Autors, wobei dieser die Namen seiner Familie bis auf "Martha" geändert hat, wie er im Nachwort erklärt. Statt Toni Liebe und Zuneigung zu schenken, muss Martha für ihre Familie sorgen, da ihr Mann erkrankt ist, so dass sie die Schusterarbeiten nebst Haushalt mit übernehmen muss.

In ihrer Geschichte spiegelt sich vor allem auch die Last wider, die auf den Frauen gelegen hat. Martha durfte nur heimlich arbeiten, da die Bauern Schuhe, geflickt von einer Frau, die das Handwerk nicht gelernt hat, nicht angenommen hätten. Hinzu kommt die schwierige politische Situation, im Rest Europas herrscht Krieg und auch die neutrale Schweiz ist von der Lebensmittelknappheit betroffen. 

Der Preis, die Armut zu besiegen, bringt auf Seiten Marthas zwar unbedingten Arbeitseifer, Fleiß und Geschick mit sich, allerdings auch ein Zurückstecken aller persönlichen Wünsche und Träume. Es ist unglaublich, was diese Frau alles geleistet hat - gleichzeitig ist sie nicht in der Lage, ihren Kindern Liebe oder auch nur Wärme und Lob zu schenken. Sie selbst hat es nicht erfahren, wie soll sie es weitergeben.

Dieser Mangel bestimmt auch Tonis Leben, der ebenfalls unfähig ist, seinen Sohn Bastian (= Lukas Hartmann) zu loben, ihm seine Liebe zu zeigen. Auch Toni schuftet, um finanziellen Wohlstand zu erreichen, ohne seine eigenen Bedürfnisse und Interessen zu berücksichtigen. Erst Bastian kann sich aus dieser Spirale befreien.

Der Roman zeigt sehr deutlich, wie sich Marthas Lebensumstände auf die nächste und auch noch die übernächste Generation auswirken. Zwar hätten ohne ihren Arbeitswillen ihre Kinder vielleicht das gleiche Schicksal erlitten wie sie selbst, doch die psychischen Auswirkungen der mangelnden Aufmerksamkeit begleiten sie lebenslang und sie geben diese Erfahrungen weiter.

Sehr authentische Figuren, allerdings bleiben sie distanziert. Der Autor wählt eine sehr nüchterne, sachliche Sprache und rafft auch große zeitliche Abschnitte, um alle drei Generationen darstellen zu können. So habe ich den Roman mit Interesse gelesen, ohne wirklich in die Geschehnisse emotional involviert zu sein.

Die Frage, inwiefern das Schicksal meiner Vorfahren mein eigenes bestimmt, beantwortet Hartmann für seine Familie väterlicherseits allerdings sehr glaubwürdig.

Donnerstag, 25. April 2024

Scott Alexander Howard: Das andere Tal

Ändert sich die Zukunft, wenn man die Vergangenheit beeinflusst?

Leserunde auf whatchaReadin

Ein ungewöhnliches Setting hat sich Scott Alexander Howard einfallen lassen. Die 16-jährige Protagonistin Odile, aus deren Ich-Perspektive der Roman erzählt wird, lebt in einem Tal, das von Bergen und einem See begrenzt wird. Jenseits der Berge im Osten liegt das gleiche Tal, allerdings 20 Jahre in der Zukunft, dahinter eine weiteres Tal, wieder 20 Jahre in der Zeit voran. Wie viele von den Tälern es gibt, bleibt offen. Im Westen hingegen liegt die Vergangenheit - das Tal vor 20 Jahren, sowie weitere Täler, jeweils 20 Jahre in der Zeit zurück.

Die schüchterne Außenseiterin Odile, die in der Schule keinen Anschluss hat, bewirbt sich auf Bestreben ihrer Mutter - ihr Vater ist gestorben, als sie 4 Jahre alt war - für eine Ausbildung im Conseil. Dieses regelt die Besuche zwischen den Tälern. Menschen, die jemanden verloren haben, den sie sehr geliebt haben, können unter bestimmten Umständen diesen in der Vergangenheit besuchen, oder wenn Menschen wissen, dass sie sterben, einen geliebten Menschen in der Zukunft sehen. Diese Besuche unterliegen strengen Auflagen und müssen von eben jenem Conseil entschieden und überwacht werden.
Odile muss im Auswahlverfahren auf die Frage antworten, in welches Tal sie reisen wolle - nach Osten oder Westen.
Diese Frage wirft viele Gedanken auf:
Würde ich wirklich in die Vergangenheit reisen wollen, um einen geliebten Menschen noch einmal sehen zu dürfen? Wenn ich weder mit ihm sprechen darf noch die Zeit verändern darf? Würde es mich nicht allzu sehr belasten und die Trauer noch verstärken?

Odiles Leben nimmt eine entscheidende Wendung, als sie zufällig vor der Schule Besucher aus einem anderen Tal trotz deren Masken erkennt. Es sind die Eltern Edmes, eines Mitschülers, der sich für Odile in einer Situation eingesetzt hat, in der sie gedemütigt wurde, und für den sie zunehmend Gefühle entwickelt. Der Besuch kann nur bedeuten, dass Edme bald sterben muss.
Bis dahin wähnt man sich in einem klassischen Jugendbuch und die Vermutung entsteht, dass sie sich ernsthaft in Edme verlieben und in ein Dilemma geraten wird. Soll sie ihm verraten, dass er sterben wird? Soll sie ihn warnen? Und was wird auch ihrer Bewerbung für das Conseil, wenn sie solch eine Handlung vollzieht.

Im Conseil wird während des Bewerbungsverfahrens darüber diskutiert, ob in dem Moment, in dem ich die Vergangenheit ändere, auch die Zukunft für alle eine andere wird. Die Gefahr besteht, dass man die Zukunft so beeinflusst, dass bestimmte Dinge bzw. Menschen nicht nur verschwinden, sondern es so sein wird, dass sie nie existiert haben.

"Was es nie gegeben hat, hinterlässt keine Spur. Keine schwache Erinnerung, kein störendes Gefühl, dass etwas nicht stimmt, kein Erschaudern, nichts." (S.125)

Eine Veränderung würde alle betreffen würde, wie Wellen würde sich die Veränderung durch das ganze Tal ziehen.
Sehr kompliziert, die Sache mit der Zeit, wenn man nicht Einstein ist  - aber auch sehr faszinierend. In der Leserunde wurde intensiv über das Paradox der Zeitreisen diskutiert.
Eine Frage haben wir uns auch gestellt: Was ist mit der genetischen Vielfalt im Tal, wenn es nur diesen begrenzten Raum gibt?

Im 2.Teil des Romans wird die Handlung deutlich düsterer und verliert zeitweise den Jugendbuchcharakter. Über das Ende wurde in der Leserunde heftig diskutiert. Dieses möchte ich aber den zukünftigen Leser:innen des Romans nicht vorwegnehmen. Es gab Stimmen pro und contra und auch andere mögliche Alternativen für den Schluss kamen zur Sprache.
Mir persönlich hat das Ende gefallen und ich fand das Zeitreise-Gedanken-Experiment sehr spannend und interessant, es führt uns selbst zu der Frage "was wäre gewesen wenn "- allerdings können wir (noch) nicht in der Zeit zurückreisen, um eventuelle Fehler wieder gut zu machen oder unsere Zukunft zu verändern.
Auch sprachlich hat mich der Roman überzeugt, dem Autor gelingt es die jeweilige Stimmung der Situation einzufangen. Eine schöne Passagen, in denen Edme für die Aufnahmeprüfung am Konservatorium übt und Odile ihm zuhört:

"Wie ein Derwisch sprang Edme vor den Bäumen umher; seine Geige zerriss die Nacht in schmale Bänder. als er fertig war, herrschte dröhnende Stille." (S.152)

Ein lesenswerter Debütroman, dem hoffentlich noch weitere folgen werden.


Donnerstag, 21. März 2024

Dana von Suffrin: Nochmal von vorn

Leserunde auf WhatchaReadin


Ich hatte etwas Probleme in diese Geschichte hineinzufinden, da die Zeitebenen hin- und herspringen. Der Roman beginnt recht humorvoll  mit dem Treffen verschiedener Außenminister im Jahr 1940, die über die Region Siebenbürgen entscheiden - ein Treffen, das tatsächlich stattgefunden hat.
Die Region, in der die Großeltern der Protagonistin leben, wird Ungarn zugesprochen. 
Im 1.Kapitel erfährt Rosa in ihrem Viererbüro, dass ihr Vater im Krankenhaus gestorben ist. Danach ist sie "in dem Zustand (...), den (sie sich) mir immer gewünscht ha(t): an gar nichts denkend, vollkommen leer." (S.13)

Während sie an ihre ältere Schwester Nadja denkt, wird sie wütend, da diese sich der Familie regelrecht entzogen hat, sie sei verantwortungslos, aber nicht abgestumpft. Nachdem sie im Krankenhaus war, fährt Rosa in die Wohnung ihres Vaters, der in einem Mietshaus gewohnt hat, in dem auch viele Studenten leben, und offensichtlich ein komischer Kauz gewesen ist:
"Mein Vater muss den Nachbarn als Sonderling gegolten haben, als alter, dürrer Typ, der kein >>ch<< ansprechen konnte (und der, wenn er in Wut geriet, ständig alle Buchstaben verwechselte, worüber wir früher in einer grenzenlose, unsinnige Heiterkeit verfallen waren)" (S.22); "Er lebte wie ein Schatten" (S.23).

Insgesamt entsteht der Eindruck einer dysfunktionalen Familie, die rebellische Schwester Nadja, der schwermütige Vater und die Mutter, die ihre Familie verlassen hat, und irgendwo dazwischen steht Rosa.
Ihr jüdischer Vater, der in Israel groß geworden ist, ist zwar Chemiker, seine Abschlüsse wurden in Deutschland jedoch nicht anerkannt, so dass er als Laborant arbeiten muss und die Familie nur wenig Geld zur Verfügung hat. Sein Bruder Arie ist in Israel geblieben, Rosas Oma Zsazsa ist in einem Altenheim in Tel Aviv untergebracht.
Die Erinnerungen Rosas sind sehr assoziativ - erzählt wird im inneren Monolog, teilweise mit langen, verschachtelten Sätzen. Ausgehend vom Tod denkt Rosa an alles Mögliche zurück. Wie ihre Eltern sich kennengelernt haben, wie chaotisch das Familienleben verlaufen ist. In ihrer Erinnerung streiten immer alle miteinander. Die Mutter, die aus Bayern stammt und ihr Studium nicht abgeschlossen hat, ist unzufrieden mit ihrem Leben als Mutter und Hausfrau. Es bleibt die Frage, warum die Eltern geheiratet haben, wenn sie sich doch offenkundig nicht mögen. Konsequenterweise verlässt Veronika die Familie, kurz bevor auch Nadja auszieht und Rosa mit dem Vater allein lässt. Obwohl Rosa positive Kindheitserinnerungen an ihre Schwester hat, denkt sie in der Gegenwart stets negativ an Nadja.
Nebenbei werden auch geschichtliche Ereignisse eingeflochten - der Jom Kippur Krieg in Israel und das Ende der deutschen Besatzung in Siebenbürgen, das den jüdischen Großeltern die Freiheit zurückgebracht hat.
Im Versuch den Inhalt zusammenzufassen, wird wieder deutlich, wie zerstückelt alles erzählt wird und wie es zunehmend schwieriger wird, das Puzzle vollständig zusammenzusetzen. Hinzu kommt, dass vorwiegend Banales erzählt wird, Nebensächlichkeiten, die in jeder Familie vorkommen können. Das einzig Besondere scheint zu sein, dass Rosa in einer halbjüdischen Familie aufgewachsen, einer Familie, deren jüdischer Teil von der Shoa geprägt ist. Es gelingt der Autorin jedoch nicht, die Bedeutung der Shoa auch für die kommenden Generationen greifbar zu machen.
Trotz der teilweise recht ansprechenden Sprache hat mich der Roman v.a. im Mittelteil gelangweilt, im letzten Teil steigert er sich dadurch wieder, dass die Schwestern sich erneut begegnen und einige Fragen geklärt werden.
Insgesamt hat mich der Roman jedoch nicht überzeugt, so dass ich ihn auch nicht weiter empfehlen kann.



Samstag, 2. März 2024

Daniel Mason: Oben in den Wäldern

Leserunde auf whatchaReadin

Dieser ungewöhnliche Roman von Daniel Mason hat mich zu Beginn völlig bezaubert, da ein Ort, ein Haus, eine Landschaft im Mittelpunkt stehen.
Mit rasantem Tempo beginnt die Story, zwei Liebende fliehen wegen ihrer ungebührlichen Liebe aus einer Kolonie in die Berge  und finden einen Ort, an dem sie bleiben möchten. Die Handlung beginnt Mitte des 18.Jahrhunderts, spielt in den Wäldern von Massachutsetts.
Dann folgt ein Brief, den eine Frau aus eben jener Kolonie geschrieben hat, die die Liebenden verlassen haben. Sie wird gemeinsam mit ihrem Säugling von Indianern verschleppt. (Der Begriff wird im Roman verwendet, da er die entsprechende Epoche charakterisiert. Darauf wird in einer editorischen Notiz hingewiesen, S.429).
Diese Frau gelangt zu eben jenem ersten Haus und trifft eine inzwischen alte Frau vor, die sich um sie und ihr Baby kümmert. 
Um noch mehr Blutvergießen zu verhindern, töten sie drei weiße Soldaten, die vorhaben, ein Dorf der Ureinwohner anzugreifen. Dabei stirbt die alte Frau (die Liebende) und die andere verlässt den Ort mit ihrem Kind, nachdem sie ihre Geschichte, also den Todesengel-Brief, in einer Bibel niedergeschrieben hat, die am Ende des Romans noch einmal eine Rolle spielen wird.


Der Verwesungsprozess der drei Soldatenleichen wird sehr plastisch beschrieben - aus dem "Herzen" des einen Soldaten wächst ein Apfelbaum. Dieser Apfelbaum hat wiederum einen ehemaligen Soldaten bewogen genau dort eine Apfelplantage zu gründen. Charles Osgood macht das Haus in den Bergen und auch den Garten zu einer Art Paradies, auf das immer wieder Bezug genommen wird. In einem Brief, den er seinen beiden Mädchen schreibt, erfahren wir, wie es ihn an jenen Ort verschlagen hat und wie das neue Haus entstanden ist. Im folgenden Kapitel wird aus der Sicht seiner Tochter Alice, die gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Mary die Plantage übernommen hat, erzählt, wie sie in dem Haus aufgewachsen sind, wie ihr Leben verläuft und auch, wie es zu Ende geht.
Dieser Wechsel aus traditionell erzählten Passagen aus jeweils einer personalen Perspektive, aus Briefen, aus Balladen, die jeweils kleine Puzzleteile liefern, um die ganze Geschichte zusammensetzen zu können und auch Sprichwörtern, die kommentiert werden sowie Bildern ist sehr ungewöhnlich und originell. 
Neben den unterschiedlichen Genres hat auch jeder Abschnitt einen der jeweiligen Epoche angepassten Stil - insofern ist die Aussage auf dem Buchrücken, es sei ein "sprachmächtiger spannender Roman" zutreffend.

Das nächste Kapitel besteht aus Briefen von William Henry Teale (Maler) an Erasmus Nash (Autor). Obwohl beide sehr authentisch geschildert werden, sind sie (leider) fiktiv.
Teale hat das Haus der Osgoods von einem ihrer Nachfahren gekauft, verändert und vergrößert, das ursprüngliche wird sogar verschoben, aber nichts abgerissen:

"Hier draußen reißt sowieso niemals jemand etwas ab - man fügt immer nur hinzu, agglutiniert, Haus an Haus, Schuppen an Schuppen, wie ein monströses deutsches Substantiv." (S.167)

In dieser Aussage beschreibt Mason den Aufbau seines Romans. Schicht für Schicht entsteht das Haus und wir lesen die Geschichten, die zu den Veränderungen geführt haben. Es wird immer wieder etwas hinzugefügt. Gleichzeitig knüpft er immer wieder an vorangegangene Kapitel an und offene Fragen klären sich. Dadurch wird deutlich, dass alles miteinander verwoben ist. Sogar die Toten bleiben, Geister, die dem Haus und der Natur verbunden bleiben. Sie verleihen dem Roman das Märchenhafte. Aber wer weiß schon, was nach dem Tod geschieht?

Nicht nur das Haus unterliegt dem Wandel der Zeit, sondern auch die Natur verändert sich. In Zwischenkapiteln wird dargestellt, wie auch Kleinstlebewesen vieles verändern können.

Die Handlung erstreckt sich bis in die Gegenwart und sogar in die Zukunft hinein. Was wird bleiben, von dem Haus, der Umgebung, den Menschen, die es bewohnt haben?

Ein faszinierender Roman, der mehrere Genres und Stile gekonnt zu einem organischen Ganzen vereint und darüber hinaus sehr unterhaltsam ist.

Für mich ein Lesevergnügen!