Mittwoch, 20. April 2016

Rabih Alameddine: Eine überflüssige Frau

- ein stiller Roman, in der eine 72Jährige über ihr Leben reflektiert.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 470 Seiten
Verlag: Louisoder
Erschienen am: 24. Februar 2016
ISBN-10: 3944153308
ISBN-13: 978-3944153308
Originaltitel: An Unnecessary Woman


Mein besonderer Dank gilt dem Louisoder Verlag, der mir dieses Rezensionsexpemplar zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt
Bin ich eine überflüssige Frau?
Diese Frage stellt sich die 72-jährige Aaliya Saleh, die seit ihrer Scheidung mit Anfang 20 alleine in Beirut lebt. Um die Frage zu beantworten - reflektiert sie über ihr bisheriges Leben.

"Man könnte sagen, dass ich mit den Gedanken woanders war, als ich meine Haare blau wusch, und zwei Gläser Rotwein haben zu meiner Konzentration auch nicht gerade beigetragen. Ich will es erklären. Zunächst sollten Sie Folgendes über mich wissen: Ich habe nur einen einzigen Spiegel zu Hause, und der ist schmutzig." (S.7)

Aaliyas Vater, der sie sehr geliebt hat, starb, als sie noch keine zwei Jahre alt war. Ihre Mutter heiratete daraufhin seinen Bruder - was macht man sonst mit einer jungen Witwe im Libanon Ende der 30er Jahre? Aus der neuen Ehe gehen vier Brüder und eine Schwester hervor, mit der Aaliya Zeit ihres Lebens wenig verbindet.


"Mit sechszehn wurde ich verheiratet, unreif aus der Schule gepflückt, dem einzigen Zuhause, das ich hatte, und dem ersten unpassenden Verehrer geschenkt, der vor unserer Tür erschien - ein Mann klein von Statur und Geist." (S.25)

Das "impotenten Insekt" (S.25) lässt sich zu ihrem Glück von ihr scheiden. Er hätte sich auch eine Zweitfrau nehmen können. Sie bleibt gegen den Willen ihrer Familie unverheiratet und in der für eine Alleinstehende großen Wohnung, die sie gemeinsam mit ihrem Mann bewohnt hatte. Ihre Halbbrüder bedrängen sie regelmäßig die Wohnung zu räumen und erst mit dem Krieg im Libanon 1982 nimmt zumindest dieser Terror ein Ende, während der Krieg ihr Leben täglich bedroht.

Im Haus leben außer ihr auch noch "die drei Hexen", die "seit fast dreißig Jahren jeden Morgen zuckersüßen Kaffee miteinander" trinken. (S.90)
"Mit zweiundsechzig ist Fadia die älteste der drei. Ich selbst bin natürlich schon einiges weiter. Sie altert nicht in Würde, sondern bekämpft jedes Zeichen des Verfalls energisch und bitter. (,,,) Trotzdem sieht sie jünger und frischer aus als die zehn Jahre jüngere Marie-Thérèsek, die ohne Bitterkeit und mit erkennbarer Resignation altert. (...) Marie-Theéreèse hat ein undurchschaubares Gesicht, einen Das-Leben-ist-nur-ein-Traum-Blick (...)." (S.91f.) Die letzte im Bunde ist Joumana, eine College-Professorin.

Aaliya scheut den Kontakt zu den Dreien und zu Menschen generell, vor allem nachdem sie ihre beste Freundin Hanna 1972 verloren hat, mit der sie ein besondere Beziehung verbunden hat und deren Lebensgeschichte in all ihrer Tragik liebevoll von Aaliya erzählt wird. Sie war ihre einzige Vertraute und echte Freundin im Leben und seit ihrem Tod ist Aaliya allein - bis auf die Literatur.
Denn bis zu ihrer Rente war sie Angestellte in einer Buchhandlung und ihre Leidenschaft gilt den Büchern und dem Übersetzen. Jedes Jahr übersetzt sie ein literarisches Werk ins Arabische, aber nicht aus dem Original, sondern als Vorlage dienen ihr die französische und englische Übersetzung. Sie veröffentlicht ihre Werke jedoch nicht, sondern sammelt die Papiere in ihrer Wohnung.

"Wenn ich ehrlich sein soll - und das sollte ich, oder nicht?-, übersetze ich Bücher nach meinem selbsterdachten System, weil dadurch die Zeit angenehmer vergeht"  und "weil es mich manchmal glücklich macht. Ich leide ja schließlich nicht an Anhedonie." (S.170)

Eigentlich will Aaliya eine neues Projekt beginnen, pünktlich mit dem Beginn des neuen Jahres - doch in diesem Jahr kann sie sich nicht entscheiden, womit sie beginnen soll.
In dieser Phase der Unsicherheit  wirft sie der überraschende Besuch ihres Halbbruders, der ihre Mutter, mit der sie schon lange keinen Kontakt mehr hat, zu ihr abschieben möchte, aus der Bahn. Diese Begegnung ist für sie und auch für die Leser/innen verstörend, denn ihre Mutter beginnt zu schreien und Aaliya ist mit der Situation überfordert. Mithilfe der tatkräftigen Unterstützung ihrer Nachbarin weigert sie sich, ihre Mutter aufzunehmen. Diese Szene ist Anlass für einen langen Exkurs über die Beziehung zu ihrer Mutter, aber auch über die Psychologie in Romanen:

"Wenn dies ein Roman wäre, könnten Sie sich zusammenreimen, warum meine Mutter geschrien hat. Alain Robbe-Grillet schrieb einst, dass das Schlimmste, was dem Roman passieren konnte, das Aufkommen der Psychologie war. Man kann davon ausgehen, er meinte, dass wir jetzt alle erwarten, die Motivation hinter den Taten der Figuren zu verstehen, als ob das möglich wäre, als ob das Leben so funktionierte. Ich habe so viele aktuelle Romane gelesen, vor allem aus der angelsächsichen Welt, die langweilig und banal sind, weil ich immer Zusammenhänge erkennen soll. Zum Beispiel: Eine Hauptfigur kann keine Liebe empfinden, und der Grund dafür ist, dass sie körperlich missbraucht wurde (...). Dabei wird natürlich vollkommen die Tatsache übersehen, dass viele andere dasselbse erlebt haben, aber sich eben nicht so verhalten. Doch das ist nebensächlich im Vergleich zu dem echten Verlust, den man erleidet, wenn dem Wunsch nach Erklärungen nachgekommen wird: der Verlust des Geheimnisses. Literatur, die alles erklärt, macht Leser dumm." (S.152)

Trotzdem will sie dem Schreien ihrer Mutter auf den Grund gehen und verlässt ihre Wohnung, um diese am nächsten Tag zu besuchen. Ist die erste Szene der Herauswurfs aus der Wohnung verstörend, berührt die 2.Begegnung mit ihrer Mutter, die Aaliya im Haus ihres Halbbruders aufsucht und dabei ihre Großnichte kennenlernt. Aaliyas Mauern um ihr Herz, die sie sich all die Jahre aufgebaut hat, beginnen zu bröckeln.
Nach dem Besuch bei ihrer Mutter erschüttert ein Wasserrohrbruch in ihrer Wohnung ein weiteres Mal ihr Leben, denn dieses Mal sind es die Hexen, die sich in ihrer Wohnung "drängen" und ihren Blickwinkel verändern.

Bewertung
Der Roman wird aus der Ich-Perspektive Aaliyas im Präsens erzählt und ist an die Leser/innen gerichtet. So hat man das Gefühl alles im Moment mitzuerleben. Dazu trägt bei, dass der Roman nur 2 Tage umfasst, die Erzählzeit also fast identisch mit der erzählten Zeit ist. Die vielen Reflexionen Aaliyas tragen dazu bei, dass man diese Frau zu mögen beginnt, da sie schonungslos ihr Leben vor uns ausbreitet.
Schließlich bewegt sie die Frage, ob sie eine überflüssige Frau sei, da sie kaum mehr als Übersetzungen vorzuweisen habe und im Grunde einsam ist - auch wenn ihr die Literatur darüber hinweg hilft.
Die unvorhergesehenen Ereignisse - wie der Besuch ihres Halbbruders und der Wasserrohrbruch - können daher ihre Lebenswelt aus den Fugen bringen.
Die Handlung des Romans und der sensible Rückblick auf ihr Leben machen aber nur einen Tiel der Faszination dieses Romans aus.
Es sind die intertextuellen Bezüge, die Erwähnung literarischer Meisterwerke und die zahlreichen Zitate, die Aaliya stets zur Hand hat, wenn sie aus ihrem Leben erzählt, die den Roman zu einem besonderen Lesegenuss machen.
Sie lebt für diese Bücher, fast möchte man sagen, sie lebt und liebt nur durch diese Bücher, da sie ihrem Leben Sinn geben. Sowohl die Arbeit im Buchladen als auch ihre Übersetzungen. Die Figuren in den literarischen Werken sind ihr näher als die realen Personen, die sie umgeben und denen sie aus dem Weg geht.
"Ich glaube, dass manchmal, aber nicht immer, beim Übersetzen mein Kopf wie Himmelslicht ist. Ohne eigenes Zutun besucht mich die Glückseligkeit." (S.171)

Der Roman ist Hommage an die Literatur und eine Lebensbeichte, die mir deutlich gemacht hat, welches Glück uns literarische Werke bringen können - aber die zwischenmenschlichen Beziehungen vermögen sie nicht vollständig zu ersetzen, wie sich auch Aaliya eingestehen muss:

"Manchmal denke ich, dass es genügt, dass ich dankbar bin.
Meistens denke ich, ich mach mir etwas vor." (S.172)


Ein wunderbarer Roman!