Donnerstag, 19. April 2018

Karen-Susan Fessel: Mutter zieht aus

- der Verlust des Zuhauses.

Die Ich-Erzählerin schildert in der Biographie die Lebensstationen ihrer Mutter bis zum Auszug aus deren Haus in eine betreute Wohnanlage. Anlass für den Umzug ist ein Sturz, in dessen Folge Anke Fessel das Haus verlässt, in dem sie 34 Jahre gewohnt hat.

"Was bleibt von diesem gelebten Leben? Was nimmt meine Mutter mit aus diesem Haus, aus dieser Zeit? Was hinterlässt diese Generation alter Frauen?" (S.6)

Diese Fragen beantwortet Fessel im Lauf ihres Romans, denn es ist

"Zeit zurückzublicken. Und zugleich auch nach vorn . Bevor es zu spät ist." (S.6)


Dabei erzählt sie nicht chronologisch den Lebenweg von Anke Fessel geb. Wegener, nach, sondern springt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, integriert Interviews mit ihrer Mutter, ein Bewerbungsschreiben und handschriftliche Notizen. So entsteht das authentische und sehr persönliche Bild einer Frau, das der Vita vieler Frauen der Kriegsgeneration gleicht.

Sie ist das zweitälteste Kind von 7 Geschwistern, das älteste Mädchen. Die Familie ist in Breslau ansässig, zieht 1940 nach Litzmannstadt, heute Lodz. 1944 fliehen sie vor den Russen über Stettin nach Wismar. Schließlich landen sie in Lübeck, wo der Vater, ein Arzt, eine Anstellung findet und Anke endlich wieder die Schule besuchen kann. Sie schließt mit der Mittleren Reife ab, obwohl sie gern Abitur gemacht hätte - ein Leben mit vielen Brüchen und aufgegebenen Träumen.

"Vielleicht gibt es kein einziges Leben, das glatt läuft, aber die Generation meines Vaters, erwachsen geworden nach dem Krieg, hatte nichts Solides, auf dem sich aufbauen ließ, kein ehernes Fundament, nur Trümmersteine und fragile Werte." (S.9)

Fessel setzt sich auch mit der Vergangenheit ihres Großvaters auseinander, der "durch und durch nationalsozialistisch geprägt" (S.23) und im NS-Ärztebund organisiert war und dessen Akte auch zur Kriegsverbrecher-Kommission der Vereinten Nationen weitergeleitet wurde, jedoch nie eine Anklage erhoben wurde.
Ihre Mutter, die mit ihren schwarzen Haaren nicht dem nationalsozialistischen Idealbild entsprochen hat, nimmt aus ihrer Kindheit ein Gefühl der Unzulänglichkeit mit, "Anke, unser Dummchen" (S.31) wurde sie genannt und ist bei der Flucht in Stettin auf dem Bahnhof fast "vergessen" worden. Ein Trauma, das tief sitzt.

Trotzdem hat sie sich zu einer optimistischen, fröhlichen Person entwickelt, die

 "lautstark auf sich aufmerksam [macht], damit sie nicht übersehen und vergessen wird" (S.77).

Der Roman zeichnet ein sehr persönliches Porträt ihrer Mutter, und auch ihres Vaters, und ist gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit. Der Verlust des Zuhauses, der Ort, an dem man als Kind unbeschwert gelebt hat, ist für die Ich-Erzählerin ein großer Einschnitt.

"Heimat verbinde ich ausschließlich mit diesem Haus. Noch habe ich keinen vergleichbaren Ort gefunden. Vielleicht finde ich ihn nie. Vielleicht finde ich ihn aber auch erst, wenn ich loslasse." (S.19)

Diesen geschützten Raum aufzugeben, erfordert den Mut zur Veränderung, den die Mutter aufzubringen bereit ist.

Bewertung
Der Roman hat mich auf sehr persönlicher Ebene angesprochen, da meine Großmutter mit 90 Jahre gerade ihr Zuhause verlässt und sich in eine betreute Wohnsituation begibt. Insofern kann ich viele Gedanken der Autorin nachvollziehen, obwohl noch eine Generation dazwischen liegt. Ich kann mir gut vorstellen, dass es für Kinder sehr schwer ist, das Elternhaus zu verkaufen oder hinter sich zu lassen und zu akzeptieren, dass sie an den Ort ihrer Jugend nicht zurückkehren können. Für jene, die davon betroffen sind oder sich in einer ähnlichen Situation befinden, gibt die Biographie viele Denkanstöße.

Für alle anderen ist es eine lesenswerte

"Geschichte, exemplarisch für unzählige andere, für eine ganze Generation." (S.11)


Vielen Dank an den Verlag konkursbuch für das Lese-Exemplar und an meine Buchhändlerin, die mich auf den Roman aufmerksam gemacht hat.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 256 Seiten
konkursbuch, 16. Januar 2018