Montag, 2. April 2018

Michael Hugentobler: Louis oder der Ritt auf der Schildkröte

- ein historischer Reise-Roman.

Leserunde bei whatchaREADIN

Der Roman orientiert sich an der historischen Person Louis de Rougement, dessen Buch "The Adventures of Louis de Rougement As Told by Himself" 1899 erschienen ist und der einige Jahre bei einem Stamm der Aborigines in Australien gelebt hat. Hugentobler antwortet auf die Frage, welchen fiktiven Anteil sein Roman habe, "dass die Geschichte einen wahren Kern hat, aber dass auch vieles fiktiv ist."
Einige der im Roman geschilderten Figuren haben gelebt, aber ihre Charaktere und ihr Verhalten habe er verändert. "Ein Spiel mit der Illusion: Wie viele Details braucht ein Leser, um zu glauben, etwas sei wahr, auch wenn es allenfalls erfunden ist." (Forum whatchareadin, Autorengespräch)

Worum geht es?
Der Roman beginnt mit dem misslungenen Vortrag Louis de Montesanto vor der Royal Geographical Society im Jahr 1898 über seinen Aufenthalt bei den Aboriginies, der mit subtilem Humor geschildert wird. Als ein Reporter ihn der Lüge bezichtigt und seinen Geburtsnamen "Hans Roth" ausspricht, geht der kleinwüchsige Mann auf Tauchstation.

"Das war der Moment, als er sich hinter das Rednerpult duckte. Für eine Sekunde hatte er das Geühl, er sei unsichtbar geworden." (S.11)

Die Handlung springt zurück ins Jahr 1849, zu Hans Roth Geburt in einem kleinen Schweizer Bergdorf. Die herbeigerufene Hebamme glaubt, seine Mutter könne unmöglich im 9.Monat schwanger sein, da ihr Bauch so klein ist - genauso klein wie der Junge, der jedoch einen unverhältnismäßig großen Kopf hat. Ein Umstand, der ihn zum Gespött der anderen Kinder macht.

"Von Anfang an mochte die Mutter das Kind nicht. (...) Die anderen Kinder warfen Dreck und faule Zwiebeln nach Hans. Einmal sperrten sie ihn in ein Butterfass, und er hörte sie draußen lachen. Sie trieben Nägel in den Deckel." (S.14)

Nachdem sein Vater betrunken mit seiner Kutsche den Felsen hinunterstürzt, heiratet die Mutter einen reichen Bauer und lässt den 13-Jährigen allein zurück, so dass er ins Tal flüchtet. Jahre später, nachdem er berühmt ist, wird es ein Museum im Dorf geben.
Jenes besucht 1961 Old Lady Long aus Australien, die Hans oder Louis, wie er sich später genannt hat, aus ihrer Kindheit kennt. Sie muss also zu jenem Stamm der Aborigines gehören, bei denen er gelebt hat. Die Besuchertafel gibt folgende Daten preis:

"Geboren am 12.Mai 1849, Entdecker des Stamms der Martu in Australien, Bestsellerautor, Empfang durch die Royal Geographical Society Großbritanniens, Tod in London am 9. Juli 1921." (S.18)

Sie entdeckt vergilbte Autogrammkarten, die den Titel des Romans erklären:

"Auf der Illustration war ein magerer Mann zu sehen, bis zu den Hüften im Wasser, zwischen seinen Beinen der glänzende Panzer einer Schildkröte, und es sah aus, als wolle der Mann auf der Schildkröte reiten." (S.21)

Wer ist diese alte Frau und warum möchte sie von Louis Abschied nehmen?
Die Frage wird zurückgestellt, denn zunächst erfahren wir chronologisch, welchen Weg Hans bzw. Louis nimmt, bis er schließlich in Australien landet.
Er verbringt einen Sommer bei dem Cannabis rauchenden Pfarrer Sägesser, der seiner Zeit in Indien nachtrauert. Gerät an die britische Schauspielerin Emma Campell, die die Behandlung der Sklaven auf der Plantage ihres Mannes angeprangert hat, worauf sich ihr Mann von ihr scheiden ließ. Von ihr erhält er seinen neuen Namen. Sie vermittelt ihn an einen Bankier, der ihn wiederum zu Sir Willaim Stevenson schickt, der zum Gouverneur einer Kolonie in Australien berufen wird.
Louis ist sein Butler, einer, der das übrige Personal schikaniert und Lügengeschichten erzählt:

"Abend erzählte er den Bediensteten, er sein französischer Edelmann italienischer Abstammung und nur hier, um Demut zu erlernen." (S.47)

In dieser Szene hebt der auktoriale Erzähler die Distanz auf und offenbart die Gefühle Louis, der von den anderen gehasst wird. Er fragt sich, warum er die Gesellschaft von Menschen nicht suche und ihm Bindungen ein Graus seien. Das mag mit der Zurückweisung seiner Mutter zusammenhängen, mit den Erfahrungen seiner Kindheit. Er selbst hat keine Liebe erfahren und entwickelt sich zu einem wenig empathischen Einzelgänger.

In Australien verlässt er den Gouverneur und gerät auf abenteuerlichem Weg zu den Aborigines, unter denen er tatsächlich einige Zeit lebt. Er "heiratet" die schöne Yamba, die er liebt (?), zumindest benutzt er sie, "um sich ein Gefühl von Freiheit zu verschaffen." (S.79)

Der Drang nach Freiheit erklärt vielleicht seine Ruhelosigkeit, seine Reiselust und vielleicht auch seinen Widerwillen sich anzupassen.
Die Ausgrenzung, die er seit früher Kindheit erfahren hat, setzt sich auch im Stamm fort und liegt darin begründet, dass er nicht in der Lage ist, ihre Gesetze und Regeln zu verstehen oder aber zu befolgen. Der Erzähler erlaubt nur kurze Einblicke in Louis Gedanken, so dass wir über seine Motivation und die Hintergründe seines Verhaltens nur spekulieren können.
Der Weg bis zu seinem Vortrag im Jahr 1898 ist steinig und mühsam, doch unbeirrbar verfolgt Louis das Ziel, seine Geschichte zu erzählen. Ist sie wahr? Warum wird er als Lügner bezeichnet?
Darauf gibt der Romane interessante Antworten, denn Louis fragt sich,

"ob Wahrheit für eine Geschichte überhaupt nötig sei." (S.70)

"Das Problem war, dachte er, dass der Grat zwischen Fakt und Fiktion schmal und verwirrend und unnötig sei." (S.110)

Und so dehnt er die Wahrheit und hat durchschlagenden Erfolg - bis er entlarvt wird.
Humorvoll wird die Demontage des letzten Abenteurers erzählt, eigentlich unglaublich, was die Menschen alles für bare Münze genommen haben, um ihre Vorurteile bestätigt zu sehen und unterhalten zu werden. Da hält Hugentobler auch der heutigen Gesellschaft schonungslos den Spiegel vor.

Bewertung
Ich  finde die Geschichte und das Leben von Louis de Montesanto interessant, ebenso die geschilderten Sitten, Traditionen und Bräuche der Aborigines. Dem Autor gelingt es die einzelnen Figuren mit wenigen Sätzen treffend zu beschreiben und viele Szenen weisen einen subtilen Humor auf.
Allerdings sorgt die distanzierte Erzählweise, die nur wenig Einblicke in die Gefühle und Gedanken der Protagonisten zulassen, dafür, dass sich der Roman wie ein Bericht liest, nüchtern und sachlich. Ausnahmen bilden die Kapitel, in denen Old Lady Long im Mittelpunkt steht, sie ist die einzige Sympathieträgerin, während Louis/Hans als Mensch erscheint, dem jegliche Empathie fehlt. Einzig seiner Tochter, die er gemeinsam mit Yamba hat, bringt er Liebe entgegen. Die Szene, in der er über sie spricht, zeigt ihn als mitfühlenden Menschen.

Positiv kann man festhalten, dass er keine Vorurteile gegenüber den Aborigines hat, andererseits hat er "einfach nicht verstanden, nach welchen Gesetzen sie leben würden, und es habe ihn auch nicht interessiert." (S.103)
Er ist ein Außenstehender, der die zwischenmenschliche Kommunikation und Interaktion nicht zu verstehen scheint, Ausnahme bildet seine Tochter.

"Die einzig zulässige Version der Wahrheit sei jene, die den Leser sofort in ihren Bann ziehe" (S.110).

Und das ist Hugentobler mit seiner Geschichte nur bedingt gelungen, da die Figuren auf Distanz bleiben, keine Nähe zwischen ihnen und den Leser*innen entsteht. Es bleibt die interessante Lebensgeschichte eines "unerträglichen Widerlings" (S.148), der aus seiner Welt ausgebrochen ist.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 187 Seiten
dtv, 2018

Vielen Dank an den Verlag für das Lese-Exemplar.