Sonntag, 8. April 2018

Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann

- eine skurrile Familien - und Liebesgeschichte.

Der Roman ist eine Empfehlung meiner Buchhändlerin, die meinen Lesegeschmack inzwischen sehr gut kennt. Meine Lesefreundin Sabine hingegen hat die Hände über den Kopf zusammengeschlagen, als ich ihr erzählt habe, dass ich das Buch gerade lese - zu skurril für ihren Geschmack. Die Meinungen sind also geteilt ;)

Worum geht es?
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Luise, aus deren Ich-Perspektive der Roman erzählt wird.
Zu Beginn, im Jahr 1983 ist sie 10 Jahre alt und ihre Oma Selma hat in der Nacht von einem Okapi geträumt.

"Das Okapi ist ein abwegiges Tier, viel abwegiger als der Tod, und es sieht vollkommen zusammenhangslos aus mit seinen Zebraunterschenkeln, seinen Tapirhüften, seinem giraffenhaft geformten rostroten Leib, seinen Rehaugen und Mausohren. Ein Okapi ist absolut unglaubwürdig, in der Wirklichkeit nicht weniger als in den unheilvollen Träumen einer Westerwälderin." (S.14)

Jeder im kleinen, verschlafenen Nest im Westerwald weiß, was das bedeutet - in den folgenden 24 Stunden wird jemand sterben. Das ist immer so, wenn Selma im Traum ein Okapi erscheint.

Jeder, das ist
Okapi (Quelle: pixabay)

  • der 10-jährige Martin, Luises bester Freund, der schon seit seiner Kindheit Gewichtheben übt und Luise ständig in die Höhe stemmt,
  • der Optiker, der die verwitwete Selma, deren Mann nicht aus dem 2.Weltkrieg zurückgekehrt ist, schon sein Leben lang liebt, aber seine inneren Stimme, die ihm abraten, ihr das zu sagen, nicht übertönen kann,
  • die abergläubische Elsbeth, ebenfalls Witwe, eine schrullige Kräuterhexe, die für jedes Leiden ein ungewöhnliches Mittel kennt.

"Elsbeth hatte etwas gegen Gicht, gegen ausbleibende Liebe und ausbleibenden Kindersegen, gegen unausgebliebene Hämorrhoiden und quer liegende ungeborene Kälber." (S.53)

  • die immer schlecht gelaunte Marlies, die im Haus ihrer Tante wohnt, in dem sich diese mit 92 Jahren aufgehangen hat,
  • Luises Vater, ein Arzt, der sich einer Psychoanalyse unterzieht und fortan immer auf Reisen ist und vor sich selbst wegzulaufen (?),
  • Luises Mutter, Annemarie, die sich seit Jahren mit der Frage herumschlägt, ob sie ihren Mann verlassen soll,
  • der Jäger Palm, der eine Wandlung vom Alkoholiker zum gläubigen Bibel-Zitierer durchläuft
  • und Alaska, ein Huskymischling, den der Vater kauft, um seinen eigenen Schmerz zu externalisieren,

"der Hund ist quasi eine Metapher. Eine Metapher für den Schmerz." (S.45)

  • Selma selbst dürfen wir nicht vergessen, die aussieht wie Rudi Carrell, Mon Chérie liebt und Luise Halt im Leben ist, da ihre Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind.

Der Traum führt dazu, dass die Leute im Dorf versuchen

"auf den letzten Drücker Wahrhaftigkeit ins Leben [zu] bringen. Und die verschwiegenen Wahrheiten, glaubten die Leute, sind die wahrhaftigsten überhaupt: Weil nicht an ihnen gerührt wird, ist ihre Wahrhaftigkeit gestockt, und weil sie in ihrer Verschwiegenheit zur Bewegungslosigkeit verdammt sind, werden diese Wahrheiten im Lauf der Jahre immer üppiger." (S.24)

Auch der Optiker will seine Wahrheit endlich kund tun, indem er Selma einen Aktenkoffer voller angefangener Liebesbriefe vorbeibringen möchte - doch seine inneren Stimmen sind lauter und schließlich trifft der Tod ganz unerwartet eine Person, mit der man überhaupt nicht gerechnet hat.

Der 2.Teil spielt 12 Jahre später, Luise arbeitet inzwischen in einer kleinen Buchhandlung und ist nicht bereit, die Welt in ihr Leben zu lassen, wie es ihr Vater immer fordert, der in der ganzen Welt unterwegs ist. Das ändert sich, als sie dem buddhistischen, attraktiven, jungen Mönch Frederik kennen lernt, der jedoch in Japan in einem Kloster lebt.

Eine schwierige Situation:

"Wenn ich jetzt nicht aufhöre, verstockt zu sein, dann wird das nichts, dachte ich, dann biegt das Leben falsch ab." (S.149)

Wird Luises Leben die richtige Abzweigung nehmen?

Bewertung
Eine wahrhaft skurrile Geschichte mit eigenartigen, seltsamen Protagonisten, die einem beim Lesen in ihrer Schrulligkeit ans Herz wachsen. Man fühlt mit Luise, lacht über Selma und nimmt all die etwas ungewöhnlichen Ereignisse hin, wie Okapi-Träume, die den Tod bringen, oder Gegenstände, die beim Lügen zerbrechen. Es ist eine warmherzige Geschichte über den tragischen Tod eines Menschen und wie die, die ihn liebten, versuchen diesen zu verkraften, wenn es denn je ganz gelingen kann.
Der Roman zeigt aber auch, dass die intensive Beziehung zu geliebten Menschen, dass die Freundschaft uns durch schwierige Zeiten trägt, dass wir einen Bezugspunkt im Leben brauchen. Eine Aufgabe, die Selma für Luise übernimmt - eigentlich erzählt die Geschichte vom Leben selbst mit Humor und Zartgefühl. Wer sich dabei auf skurrile Situationen einlassen kann, der wird viel Spaß und Freude an dieser Lektüre haben.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 319 Seiten
DuMont Verlag, 2017