- Musik, Liebe, Tod.
Selten bringt ein Untertitel einen Roman so auf den Punkt wie dieser. Orpheus in der Postmoderne angekommen, könnte man auch sagen.
Sprachgewaltig wird die Geschichte des jungen Musikers Orpheus erzählt, dessen Geliebte Nienke, eine Anwältin, die für seinen übermächtigen Großvater Zeus (!) arbeitet, verschwunden ist.
Nienke kann Zeus in einen Zusammenhang mit einem lange zurück liegenden Mordfall bringen - sie hat belastendes Material aus der Firma mitgehen lassen. An dem Morgen, an dem sie zur Polizei gehen will, verliert sich ihre Spur - eine Tatsache, die den liebenden Orpheus um den Verstand bringt.
Zeus ist ein skrupelloser Machtmensch, der in seiner Vergangenheit mehrere furchtbare Verbrechen begangen hat, die in Rückblicken erzählt werden, so dass sich die Familiengeschichte wie ein Puzzle langsam zusammensetzt.
Warum Orpheus Vater einen Biohof betreibt und Orpheus Onkel Dino (Dionysos) der beste Kunde seiner eigenen Kneipe ist, warum Orpheus Bruder Aris eine unberechenbare Wut in sich trägt, schildert der allwissende Ich-Erzähler, der aus der Retrospektive alle Ereignisse durchschaut und in Beziehung zueinander setzen kann.
"Heute begreife ich das Ausmaß dieser Tragödie. Denn von dort, wo ich jetzt bin, kann ich auf das sehen, was gewesen ist." (20)
Jamal erzählt die griechische Sage neu, ohne sie nachzuerzählen. Er bedient sich der mythologischen Vorbilder und kreiert daraus eine außergewöhnliche Geschichte über Liebe, Verrat, Gewalt und Macht.
Meines Erachtens hätte die eigentliche Story auch ohne die Bezüge zur griechischen Sage "funktioniert", denn das Aufdecken der Familiengeheimnisse ist spannend zu lesen und gleicht einem Krimi. Jamals Sprache wartet mit ungewöhnlichen Metaphern und schrägen Vergleichen auf, gleichzeitig ist er in der Lage schonungslos das zu beschreiben, was Menschen sich gegenseitig antun können. Wer gewaltsame Szenen nicht lesen kann, legt diesen Roman besser aus den Händen - aber in diesen Schilderungen und in den schnörkellosen Szenen liegen die Stärken seines Schreibstils.
Ich wünsche ihm, dass er noch viele Leser*innen findet, denn Talent hat Jamal und das schreibe ich nicht, weil er mir seinen Roman als Lese-Exemplar zur Verfügung gestellt hat ;), sondern weil mich bis auf wenige Kleinigkeiten die Story überzeugt hat.
Besonderheit des Romans, die zum Sänger Orpheus passt, sind die vielen Bezüge zur Musik. Jede Kapitelüberschrift ist der Titel eines klassischen Musikstücks oder eines Songs, z.B. "Leaving on a Jet Plane". Wer will, kann sich passend zur Lektüre die entsprechenden Titel anhören - intermedial sozusagen, denn die Playlist gibt es auf YouTube. Originelle Idee!