Mittwoch, 23. Januar 2019

Rosemarie Marschner: Das Bücherzimmer

Lesen mit Mira

Den Roman hat Mira in der Rubrik "Frauenromane" entdeckt. Obwohl die Protagonistin eine Frau ist, ist er auch ein Roman gegen das Vergessen und ein Beispiel dafür, wie schwierig es für Frauen in der Zeit vor dem 2.Weltkrieg gewesen ist, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Uns beiden hat der Roman gut gefallen und wir haben uns intensiv über das Leben Marie Zweisams ausgetauscht - über die Zwänge, in denen sie aufgrund ihrer Herkunft und auch ihrer Entscheidung zu heiraten gefangen gewesen ist.

Inhalt
Im Prolog betritt der Enkel Marie Zweisams ihre Villa und entdeckt in den Unterlagen seiner erfolgreichen und gerade verstorbenen Großmutter ein Hochzeitsfoto, obwohl diese seinen Großvater nie geheiratet hat. Er fragt sich, wer der Mann auf dem Foto ist.

Die Geschichte Maries setzt im Jahr 1932 ein und erstreckt sich bis zur Zeit kurz vor dem 2.Weltkrieg.

Sie wächst als uneheliches Kind auf dem Land in Österreich auf. Ihre Mutter, die sich in einen Adligen verliebt hat, der jedoch auf Druck seiner Eltern keine Bindung mit ihr eingegangen ist, wünscht sich für Marie ein besseres Leben. Daher schickt sie sie nach Linz in den angesehenen Haushalt des Notars Horbachs, wo sie als Hausmädchen arbeitet. Ein einsames, eintöniges Leben unter den Blicken der Köchin Amalia, die ihr aber wohl gesonnen ist, und den kritischen Augen der Hausherrin, die selbst in ihrem Leben gefangen scheint.

Auf diese Weise füllte sich nach und nach das schiefe alte Kleiderschränkchen oben im zweiten Stock in der Mädchenkammer mit den Kaufsünden und Fehlentscheidungen einer verwirrten Frau, die sich nicht eingestand, daß viel zu schnell ein Abschnitt ihres Lebens zu Ende gegangen war und ein neuer begonnen hatte, dessen Wert sie nicht begriff. Eine Frau, die immer lächelte, sogar noch vor dem Spiegel, wenn sie allein war. Nur manchmal, an späten Nachmittagen, wenn die Geschäftigkeiten des Tages sie müde gemacht hatten, vergaß sie zu lächeln. Wenn sie dann unerwartet im Spiegel ihrem Gesicht begegnete, erschrak sie über die Fremde, die sie da so unverhohlen fixierte. Hungrig und verlassen. (S.73)

Ihr Vater, der alte Notar, befiehlt, dass Marie ihm täglich im Bücherzimmer aus der Zeitung vorlesen soll. Da Marie eine sehr gute Schülerin gewesen ist, fällt es ihr leicht, und sie profitiert von den Monologen des alten Herren, der die politischen Ereignisse kommentiert.

Da fiel ihr das Bücherzimmer ein, in dem der Herr Notar seine schwachen Augen marterte, und sie dachte, daß dies der Platz wäre, an dem sie glücklich sein könnte. (S.52)

Während ihrer Zeit im Hause Horbach lernt sie den adligen Richard Ohnesorg kennen, eine Verbindung, die aufgrund der gesellschaftlichen Unterschiede nicht möglich ist.

Marie stand außerhalb. Außerhalb wie überall hier in der Stadt. Nur in der Horbach-Villa war ihr eine Rolle zugewiesen worden, aber die – das wurde ihr bewußt, während sie von außen in den Garten Eden hineinblickte –wollte sie nun selbst nicht. (S.64)

Als ihre Mutter erkrankt, muss sie zurück in ihre Heimat und gibt ihre Stellung auf - als verheiratete Frau kehrt sie nach Linz zurück und erlebt das Erstarken des Nationalsozialismus und die Annexion Österreichs.

Gleichzeitig muss sie feststellen, dass ihre Heirat nicht die von ihre erhoffte Freiheit bietet - ist sie im falschen Leben gefangen?

Was soll aus mir werden? Wo gehöre ich eigentlich hin? Gibt es auf dieser Welt einen Platz, an dem ich so sein darf, wie ich bin? Ja, was will ich überhaupt? Und habe ich eine Chance, es zu erreichen? (S.147)

Bewertung
Der Roman hat mir aus mehreren Gründen gefallen, da er

- aufzeigt, wie sehr die gesellschaftliche Herkunft die Lebenschancen beschränkt; auch Marie kann sich nur aufgrund eines glücklichen Zufalls daraus befreien,

- ein authentisches Bild der politischen Verhältnisse in Linz und im Vorort St.Peter in der Umbruchzeit bis hin zum 2.Weltkrieg zeichnet: die anfängliche Begeisterung für den Führer einerseits, die beginnende Desillusionierung in weiten Teilen der Bevölkerung andererseits,

- mit der sympathischen Protagonistin eine starke Identifikationsfigur schafft und die weiteren Figuren authentisch und differenziert darstellt.

Schade fanden wir, dass die Zeit des Weltkriegs und Maries Weg zum Erfolg selbst nicht thematisiert wurden. Die Autorin beschränkt sich auf die Phase bis zu Maries "Befreiung" und lässt einige Fragen offen. So schließt sich am Ende zwar der Rahmen mit dem Enkel, über dessen Eltern erfährt man sich jedoch nichts.

Hier geht es zu Miras Rezension.