Samstag, 5. Januar 2019

Gerdt Fehrle: Und nachts fluten sie die Straßen

- Erinnerungen an eine dunkle Zeit.

Zu Beginn erfahren wir aus der Sicht einer Psychiaterin, dass sie den Hundertjährigen, der in der Klinik seinen Lebensabend verbringt, nicht mag.

"Wie der in seinem Sessel saß, der unheimliche alte Nöck. Verschrumpelt, zäh, lauernd. Überhaupt nicht bedürftig, in keinster Weise gebrechlich. Eher kalt wie ein Fossil. Mit kaltem, versteinertem Herzen." (6)

Doch an diesem Abend kann sie ihm nicht entkommen, denn

"[j]etzt kommt der Schluss, die letzte große Beichte, der Abgesang. Und kein Entkommen." (7)

Nach dieser Rahmenhandlung erzählt der hundertjährige Kannengießer, der aus dem Elsass stammt, aus der Ich-Perspektive überwiegend seiner Zuhörerin von zwei Phasen seines Lebens.
Einerseits vom Mai 1968, die Zeit der Studentenunruhen in Paris, wo er ein kleines Hotel, "Les belles Hirondelles" (8), gemeinsam mit seiner Frau Michelle führt.
Andererseits von 1943-1944 im besetzten Paris, zu der Zeit ist er Polizist gewesen und hat in besonders brutalen Gewaltverbrechen an Prostituierten ermittelt.

"Wir sollten Morde aufklären. Wirklich. Das war zum Totlachen. In ganz Europa brachten sich die Menschen gegenseitig in Massen um, in Auschwitz und Treblinka und Majdanek wurden die Menschen maschinell vernichtet, wer die falsche Nationalität, Religion oder Nase hatte, konnte auf offener Straße erschossen werden, selbst in Paris, obwohl sich die Deutschen hier ja immer bemühten, kultiviert zu erscheinen, aber dennoch, erschossen und noch an Ort und Stelle verscharrt. Und ich war Kriminaler bei der Pariser Polizei. Zum Brüllen, nicht wahr?" (12)

Nach dem Abzug der Deutschen wurde Kannengießer unehrenhaft entlassen, weil sein Pariser Polizeichef, der selbst mit den Deutschen kollaboriert hat, ihm genau dies vorgeworfen hat. Als Kannengießer später rehabilitiert wird, hat er sich bereits gemeinsam mit seiner Frau als Hotelier eine neue Lebensgrundlage geschaffen.

Er hatte 1943 einen Deutschen im Verdacht, die Prostituierten getötet zu haben. Friedrich Morgenthaler, der beim SD gearbeitet hat und der am 3.Mai 1968 plötzlich in seinem Hotel auftaucht.

"Er trat einfach in unser Hotel und damit in mein Leben. Klingt ganz einfach, ganz banal, nicht wahr? Aber für mich begann die Hölle. Für einen kurzen Augenblick dachte ich, vielleicht ist das die Gelegenheit, die ich 1944 nicht bekommen habe. Die einmalige Chance, ihn doch noch zu erwischen." (15)

Der Ich-Erzähler springt zwischen den beiden Zeiträumen, so dass die Erzählstränge immer wieder unterbrochen werden, was für entsprechende Spannung sorgt.
Hinzu kommt, dass Kannengießer seine Vergesslichkeit thematisiert und das ein oder andere Mal abschweift. So erzählt er zum Beispiel, wie er zur Polizei gekommen ist, was er erlebt hat, während der erste Mord an einer Prostituierten geschehen ist, wie der Pathologe gearbeitet hat und entwirft dabei ein düsteres Bild des besetzten Paris - ein Film noir läuft im Kopf ab.
Wir erfahren von den Morden, von seinem Verdacht, am Rande von der Ermittlungsarbeit - es sind Erinnerungsbilder und -momente, weit entfernt von einem chronologischen knappen Lebensbericht.

"Die Panzer auf den Champs-Élysées vergisst man nicht, (...). Aber wie das ist, sich Tag für Tag in einer kalten Wohnung mit kaltem Wasser zu waschen, Kohle aus dem Keller zu holen, den Geruch von Öl in der kleinen Heizung, den Geschmack von echtem Camemberts, das vergisst man. Das wirklich Unschöne und das wirklich Schöne, das einem so ganz und gar unter die Haut gefahren ist, das verschwindet. Und schon ist man alt, und das sogenannte Gedächtnis besteht nur noch aus Zeitungsschnipseln und Fernsehbildern, die man für die eigenen Erinnerungen hält." (23)

Trotz seiner vermeintlichen Vergesslichkeit gelingt es dem Erzähler hervorragend die Stimmung, die Atmosphäre der jeweiligen Zeit einzufangen. Man fühlt mit Kannengießer, der Morgenthaler 1968 verfolgt, um herauszufinden, ob er tatsächlich der Mörder der Prostituierten gewesen ist und vielleicht einen Hinweis auf die verschwundene Chantal, ebenfalls eine Prostituierte, zu erhalten.

Wird er die Wahrheit herausfinden und seine Chance nutzen? Oder bleiben die Morde ungesühnt? Ist Morgenthaler überhaupt der Mörder?

Bewertung

"Nachts fluten sie in Paris die Straßen. Der Unrat einer Nacht fließt dann hinab in die Katakomben der Kanalisation. Und mit ihr das weniger Schillernde, das Heimliche, das Böse. Vom Wasser weggeschwemmt." (143)

So wie das Wasser das Böse wegschwemmt, will Kannengießer mit seiner Lebensbeichte kurz vor seinem Tod das Böse vertreiben. Er will sich das, was er erlebt hat, von der Seele reden, um ihn Ruhe sterben zu können - so habe ich den Titel in Bezug auf den Roman interpretiert.

Ein beeindruckender Roman, der vordergründig einen Kriminalfall zu erzählen scheint, der jedoch das Psychogramm eines Mörders und seines Verfolgers zu zeichnen versucht, wobei vieles vage und damit der Fantasie der Leser*innen überlassen bleibt.

Sowohl die Geschichte selbst als auch die Erzähltechnik, das Springen zwischen den beiden Lebensphasen verbunden mit der Zuwendung zur "Beicht"ärztin und das Ringen um Erinnerung machen für mich den besonderen Reiz dieses Romans aus.

Klare Lese-Empfehlung!

Lieben Dank an den Louisoder-Verlag für das Rezensionsexemplar