Dienstag, 29. Januar 2019

Kent Haruf: Abendrot

- der Einsamkeit entfliehen.

Leserunde auf whatchaReadin

Nachdem "Unsere Seelen bei Nacht"  2017 mein Lieblingsroman gewesen ist und ich im letzten Jahr mit Begeisterung "Lied der Weite" gelesen habe, musste ich nicht lange überlegen, um mich bei der Lese-Runde zu Abendrot anzumelden. Auch dieser Roman spielt wie alle von Kent Haruf in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado, vermutlich Ende der 60er Jahre.
Der Tenor in der Leserunde ist einstimmig: Ein Roman, der einen Sog erzeugt und uns allen gefallen hat.

Worum geht es?
Der Beginn des Romans ist wie ein Wiedersehen mit alten Bekannten, da die McPheron Brüder Raymond und Harold als erste auftauchen, die in "Lied der Weite" die schwangere Victoria Roubideaux aufgenommen haben. Das ist zwei Jahre her. Inzwischen gehört sie wie ihre kleine Tochter Katie für die beiden selbstverständlich zu ihrem Leben.

"Er [Raymond] wandte sich um und musterte ihr Gesicht. Ein Gesicht, das ihm jetzt vertraut und lieb war, nachdem sie drei und das Kind unter demselben freien Himmel, im selben, von der Witterung gezeichneten alten Haus gewohnt hatten." (15)

Doch Victoria verlässt das alte Haus gemeinsam mit ihrer Tochter, um das College zu besuchen. Obwohl alle traurig darüber sind und sich nicht trennen wollen, wissen sie doch, dass es notwendig ist. Eine einschneidende Veränderung für die beiden Brüder, denn es ist "verdammt ruhig hier" (21) auf der Farm - ohne Victoria und die Kleine. Es stellt sich die Frage, ob sich die beiden weiterentwickeln werden.

Neben diesem Handlungsstrang gibt es zwei weitere:

1. Betty und Luther leben gemeinsam mit ihren Kindern Joy Rae und Richie am Existenzminimum in einem Wohnwagen und beziehen Lebensmittelmarken von der Fürsorge.

"und jetzt mal sehen, sagte Rose. Ich habe Ihre Lebensmittelmarken hier. Sie nahm die Marken aus der Mappe auf dem Tisch Heftchen mit Marken im Wert von einem, fünf, zehn und zwanzig Dollar, alle in verschiedenen Farben." (29)

Die warmherzige Sozialarbeiterin Rose, neben den Brüdern die Sympathieträgerin des Romans, tut ihr Bestes, um der Familie zu helfen. Doch Betty und Luther sind auf sich und ihre körperlichen Befindlichkeiten fixiert, zudem kognitiv nicht in der Lage, ihren Kindern die entsprechende Fürsorge, ein ordentliches Zuhause und gesundes Essen zukommen zu lassen.

"Tiefgekühlte Spaghetti, tiefgekühlte Pizzen, Burrito-Packungen, Fleischpasteten, Waffeln, Beerenkuchen, Schokoladenkuchen und Lasagne. Salisbury Hacksteaks. Fertiggerichte mit Makkaroni und Käse. Alles tiefgefroren, in steinharten grellfarbigen Verpackungen." (57)

Nach einem Streit sucht Betty Rose auf, damit diese sie und die Kinder zu einer Tante fahren kann. Luthers Antwort auf Bettys Fluchtversuch:

"Ich bin ihr Mann. Die Bibel sagt, der Mann ist König im eigenen Haus. Er baut sein Haus auf einem Felsen. Sie muss auf das hören, was ich sage." (77)

Haruf wertet ihr Verhalten nicht, sondern schildert das, was sie tun und sagen, überlässt es seinen Leser*innen, was sie von den beiden halten, für die man zunächst Mitleid empfindet.

Als Bettys gewalttätiger Onkel auftaucht und sich im Wohnwagen einnistet, gerät das labile Gleichgewicht aus den Fugen.

2. DJ Kephart ist 11 Jahre alt und lebt bei seinem 75-jährigen Großvater Walter, für den er sorgt. Seine Mutter ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen und obwohl er ein Zuhause hat, fehlt es auch ihm an entsprechender Fürsorge. Eine junge Frau aus der Nachbarschaft, Mary Wells, lässt ihn in ihrem Garten arbeiten und kann ihn so finanziell unterstützen. Ihre Tochter Dena ist im gleichen Alter wie DJ und beide freunden sich an, nachdem auch diese Familie aus den Fugen gerät. Denas Vater wird nicht aus Alaska zurückkehren, wo er arbeitet, und Mary kommt mit der neuen Situation nicht zurecht. So beschließen die beiden Kinder in einem verlassenen Schuppen sich selbst ein neues Zuhause zu schaffen, manchmal schließt sich ihnen auch Denas kleine Schwester Emma an.

"So lagen beide Schwestern eine Weile neben dem Jungen auf dem Boden unter den Decken, lasen im schwachen Kerzenlicht Bücher, während die Sonne über dem Kiesweg allmählich unterging, unterhielten sich leise, tranken Kaffee aus der Thermosflasche, und was in den Häusern geschah, aus denen sie kamen, schien für diese kurze Zeit wenig Bedeutung zu haben." (250)

Im ersten Teil verlaufen die Handlungsstränge nebeneinander, bis sie sich im weiteren Verlauf berühren.

Zwei weitere Figuren aus "Lied der Weite" spielen ebenfalls eine Rolle: Tom Guthrie und Maggie Jones, inzwischen ein Paar und mit den McPherons befreundet. Sie tauchen aber eher als Nebenfiguren auf, trotzdem ist es schön zu sehen, dass sie glücklich sind, denn Haruf mutet seinen Leser*innen ansonsten einiges zu...

Bewertung

...und schildert die Realität teilweise schonungslos - in reduzierter, klarer, scheinbar emotionsloser Sprache. Nur manchmal erhaschen wir einen Blick in das Innere einer Figur, wie bei Rose, als sie mit den Kindern Joy Rae und Richie zu tun hat.

"plötzlich hatte sie das Gefühl, weinen zu müssen und nicht aufhören zu können. Sie hatte schon so viel Leid in Holt County gesehen, und alles hatte sich aufgestaut und in ihrem Herzen eingebrannt." (169)

Gerade die Geschichte um die Familie im Wohnwagen grenzt an das, was ich beim Lesen ertragen kann. Das tut körperlich weh, wenn man mit"ansehen" muss, wie es Betty und Luther nicht gelingt, ihre Kinder zu beschützen.
Auch für DJ und Dena scheint sich alles zum Schlechten zu wenden, kein Happy End in Sicht - ich will an dieser Stelle nichts verraten, nur soviel: Haruf zaubert kein "Friede, Freude, Eierkuchen" am Ende aus dem Hut, sondern entscheidet sich glücklicherweise für einen realitätsnahen (vorläufigen?) Schluss,

"wartend auf das, was kommen würde" (414)

- schließlich sind noch 3 Romane übrig, die bisher nur im Englischen erschienen sind und auch alle in Holt spielen. Hoffen wir, dass sie noch ins Deutsche übersetzt und bei Diogenes erscheinen werden.

"Abendrot" ist mein Highlight für den Januar und wird eines meiner Lieblingsbücher für dieses Jahr werden.


Ein Dankeschön an den Diogenes-Verlag für das Rezensionsexemplar.