Donnerstag, 17. Januar 2019

Dörte Hansen: Mittagsstunde

- in der alle (?) schlafen.

Leserunde auf whatchaReadin

Nachdem ich mit Mira im September 2016 "Altes Land" gelesen habe - unsere erste gemeinsame Lektüre - stand für mich fest, dass ich an der Leserunde zur "Mittagsstunde" teilnehmen möchte, da mir der Debütroman sehr gut gefallen hat.
Hansen versteht es ein Bild der dörflichen Strukturen in Norddeutschland, wie es sie in der Vergangenheit gegeben hat und wie sie sich heute darstellen, zu zeichnen. Gleichzeitig ziehen die Figuren die Leser*innen in ihren Bann, so dass man den Roman nicht aus der Hand legen will.

Worum geht es?
Zwei Figuren stehen im Mittelpunkt der Geschichte: Marret Feddersen und ihr unehelicher Sohn Ingwer.

Das erste Kapitel stellt uns zunächst die verrückt erscheinende Marret vor, die überall nur Marret Ünnergang genannt wird, da sie überall Zeichen des Weltuntergangs sieht.

"Die Leute seufzten, wenn sie das Klappern auf der Straße hörten. Dor kummt de Ünnergang al wedder." (8)

Immer wieder streut Hansen plattdeutsche Sätze ein, die jedoch den Lesefluss nicht stören, im Gegenteil, sie sorgen neben der bildreichen Beschreibung der Landschaft für das entsprechende norddeutsche "Feeling".

Wir erfahren über Marret, sie

"wurde siebzehn, wurde schwanger, sagte niemandem, von wem. Und ließ sich auch nicht heiraten von Hauke Godbersen, der sie genommen hätte, mit ihrer hohen Nase und dem Rest." (12)

Der Rest besteht, neben dem unehelichen Kind, aus ihrem Vater Sönke Feddersen, Kriegsveteran, der im Gefangenenlager in Russland gewesen ist, und ihrer stillen Mutter Ella, die gemeinsam den Gasthof des Ortes Brinkebüll führen, der im Sommer 1965 im Rahmen der Flurbereinigung sein Antlitz verändert.

Fast ein halbes Jahrhundert später kehrt Ingwer, Marrets Sohn nach Brinkebüll zurück, der an der Universität Kiel Ur- und Frühgeschichte lehrt und in einer Dreier-WG gemeinsam mit Ragnhild und Claudius lebt - "Übriggebliebene" aus der Studentenzeit. Er als Kind vom Land, als "Kartoffelkind", wie er sich selbst bezeichnet. Sie kreisen

"lebenslang um ihre Dörfer, blieben auf den Umlaufbahnen, die sie hielten, nicht zu nah und nicht zu fern. Treue Mondgesichter, die an ihrer alten Erde hingen." (27)

Da sein Großvater Sönke inzwischen 93 Jahre alt ist und seine Großmutter Ella dement,

"[s]ie war in fließenden Gewässern unterwegs, wo Menschen, Zeiten, Orte durcheinandertrieben" (49), 

nimmt er sich ein Sabbatical, damit er sich um die beiden kümmern und herausfinden kann, welche Richtung er in Zukunft einschlagen will.

Abwechselnd wird geschildert, wie Ingwer an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt, an den viele Erinnerungen geknüpft sind. Wie er sich um seine Großeltern kümmert, sich seinem Großvater annähert und alte Rechnungen begleicht.

In den Kapiteln der Vergangenheit steht Marret im Mittelpunkt, ihr seltsames Verhalten als Kind und Jugendliche, das darauf schließen lässt, dass sie eine Beeinträchtigung hat, die jedoch weder erkannt noch therapiert wird.

"Marret Feddersen schien hinter einer Wand aus Glas zu leben. Man musste rufen oder winken, um sie zu erreichen, und manchmal war das Glas auch noch beschlagen." (33)

Die einzelnen Figuren sind detailliert gezeichnet und repräsentieren verschiedene Typen, wie diejenigen, die selbst in dörflichen Strukturen aufgewachsen sind, sie alle kennen. Eine besondere Rolle spielt der Lehrer Steensen, der dafür sorgt, dass Ingwer auf die Oberschule nach Husum gehen kann.

Das Dorf selbst könnte überall sein - die gleichen Verhaltensmuster, das Gerede, der Spott, aber auch das Schweigen bei offensichtlichem Unrecht.

"Ingwer fragte sich, was man als Brinkebüller wohl verbrechen musste, bevor man ausgeschlossen wurde. [...] Ihm fiel nichts ein." (97)

Die Mittagsstunde, die dem Roman den Titel gibt, ist in beiden Handlungssträngen ein Leitmotiv, ebenso wie die Liedtitel, die als Kapitelüberschriften dienen.

"Niemand konnte leiser essen und Treppen geräuschloser hinaufschleichen als Kinder, die in Nordfriesland aufgewachsen waren. Wenn es etwas gab, was den Menschen hier oben heilig war, dann war es ihre Mittagsstunde." (22)

Obwohl alle zu schlafen scheinen, geschieht Verborgenes, Heimliches in dieser Stunde.

"Sie [Marret] tauchte meistens in der Mittagsstunde unter, sie machte es wie alle, die in Brinkebüll für eine Zeit verschwinden wollten. Die nicht gesehen werden wollten..." (31)

Zwei Fragen sorgen für Spannung beim Lesen: Warum taucht Marret in den Kapiteln der Gegenwart nicht mehr auf? Welche Richtung wird Ingwers Leben nehmen, wird ihn das Jahr auf dem Land verändern, so dass er nicht mehr tiefstapelt und sich wegduckt?

Bewertung
Ein beeindruckender Roman, der eine Welt auferstehen lässt, die bereits vergangen ist und von der sich viele wünschen, dass sie wiederkehren würde.

"Es war ein großes Missverständnis. Die Leute aus der Großstadt suchten die Natur und das Ursprüngliche, und in den Dörfern wurde es gerade abgeschafft." (268)

Doch Hansen stellt das Leben auf dem Land nicht als Idylle dar. Es erscheint als Enge, in der sich Menschen wie Marret nicht entfalten können. Geheimnisse bleiben nicht geheim, doch es wird nicht offen darüber geredet - das kann entlastend, aber auch, wie Hansen anhand einiger Protagonisten aufzeigt, belastend sein. Ingwers Blick auf das Dorf ist ein realistischer und zeigt die Veränderungen zum Guten, aber auch zum Schlechten deutlich auf - kein Bäcker, kein Kaufmann, keine Schule mehr.

"Die Leute hatten sich das abgewöhnt wie ihre Mittagsstunde, es legte sich jetzt kaum noch jemand hin tagsüber." (256)

Die Stärke des Romans liegt in den vielen, kleinen berührenden Szenen,
wenn Ella und Sönke zusammen tanzen, als "wäre die Musik ihre Gebrauchsanweisung füreinander" (123)
oder Sönke seinen Enkelsohn "wie ein Beuteltier (...) am Bauch trug." (184)

Und in der großartigen Beschreibung der Landschaft, die allen Veränderung trotzt.

"Man hatte hier als Mensch nicht viel zu melden. Man konnte gern rechts ranfahren, aussteigen, gegen den Wind anbrüllen und Flüche in den Regen schreien, es brachte nichts. Es ging hier gar nicht um das bisschen Mensch." (17)

Klare Lese-Empfehlung!

Vielen Dank dem Penguin Verlag für das Rezensionsexemplar und die netten Worte!