Donnerstag, 15. Oktober 2015

Monika Held: Der Schrecken verliert sich vor Ort.

ein Roman über einen Ausschwitz-Überlebenden und den Versuch in das Leben zurückzukehren.

Inhalt
Heiner Rosseck, der aus Wien stammt, wurde als Sozialist 1942 nach Auschwitz deportiert. Als Schreiber in der Krankenstube musste er den Verwandten der getöteten Häftlinge mitteilen, an welcher "Krankheit" ihre Lieben verstorben sind. Verweilte jemand länger als 2 Wochen in der Krankenstation, wurde er mit einer Spritze getötet. Heiner überlebt Auschwitz, weil er eine Mission hat: Zeuge zu sein, die Täter anklagen, für die unfassbaren Verbrechen, die sie begangen haben. Dafür riskiert er sein Leben, indem er heimlich vom Dachboden zusieht, wie Menschen willkürlich vor der schwarzen Wand erschossen werden.
Jahre später lernt Heiner, der Anfang der 60er Jahre als Zeuge beim Frankfurter Auschwitz-Prozess aussagt, Lena, gebürtig aus Danzig und polnische Übersetzerin, kennen, die sich in ihn verliebt. Sie bemüht sich eine Beziehung mit Heiner aufzubauen, einem Mann, der ein Senfglas aufbewahrt, in dem sich Knöchelchen befinden, die die Wege in Auschwitz bedeckten. Einen Mann, der Alpträume hat und die Vergangenheit mit sich trägt, ohne dass er diese jemals mit Lena teilen könnte. In der Verhandlung sagt er zum Richter:

Hohes Gericht. Sie hören unsere Geschichten. Sie protokollieren sie. Sie erreichen Ihren Verstand. Sie erreichen Ihre Intelligenz. Vielleicht Ihre Phantasie. Dennoch sind Sie uns keinen Millimeter näher als vor dem Prozess. Zwischen Ihren Vorstellungen und unseren Erfahrungen verkehrt kein Zug. (S.34)


Dieser Aussge führt uns ganz plastisch vor Augen, dass es für die Nachgeborenen unmöglich ist, den Schrecken dieses Ortes tatsächlich zu erfassen.

Als in Polen 1982 das Kriegsrecht ausgerufen wird, fährt er zu einem, der mit ihm in Auschwitz war, um ihm zu helfen. Die beiden unterstützen den Widerstand, indem sie Lebensmittel, Hilfsgüter, Kleidungsstücke und auch Geld in einem LKW über die Grenze bringen. Gemeinsam besucht Heiner in Polen mit Lena auch den Ort seines Grauens, der für ihn eine Art Heimat ist.

Er bertrat das Gelände durch das schmiedeeiserne Tor. Niemandem hätte er das kalte Fieber erklären können, das ihn überfiel, wenn er diesen Boden betrat. Er war hier zuhause. Alles musste er berühren wie nach einer langen Trennung. An kein Ort der Welt wäre er je wieder so gefesselt wie an diesen. (S.163)

Für Lena, die überhaupt nichts anfassen möchte, ist dies sehr befremdlich. Auf ihrer Reise durch Polen begegnen sie weiteren Freunde von Heiner, alles Überlebende, die ihre Geschichte erzählen. Es sind Berichte aus dem Lager, die verstören und manchmal so unfassbar sind, dass man eigentlich nicht weiterlesen möchte, was das Geschehene jedoch nicht auslöschen kann. Der Roman gipfelt in einer Weihnachtspredigt, die Heiner in einer Kirche hält, in der es Tradition ist, dass jeweils ein Laie nach dem Evangelium auf der Kanzel steht. Er wendet sich direkt an einen 90-Jährigen, von dem er glaubt, er habe als Handlanger in Auschwitz die Kranken zur Exekution mit der Spritze begleitet. Das Grauen, das er schildert, ist eines von vielen, mit denen man in diesem Roman konfontrontiert wird. Margarete Mitscherlich bringt es in ihrem Nachwort auf den Punkt:
In diesem Buch sind Taten beschrieben, zu denen ein Mensch nicht fähig sein sollte und wir haben nie gedacht, dass Menschen dazu fähig sind. (S.270)

Das Erzählen-Müssen all ihrer Geschichten hilft den Opfern ihr Leben nach Auschwitz zu meistern.

Bewertung
Ich habe schon unzählige Romane gelesen, die sich mit Auschwitz auseinander setzen, aber selten hat mich eine Geschichte trotz ihrer lakonischen, fast schon sachlichen Sprache so berührt. Der Autorin gelingt es die unfassbare Grausamkeit und die Willkür, die die Häftlinge zu ertragen gezwungen waren, die Beliebigkeit der Brutalität, das tägliche Elend mit einfachen Sätzen vor dem inneren Auge entstehen zu lassen, dass man am liebsten das Buch zuklappen würde und nicht weiter darüber nachdenken möchte.
Das Leiden Heiners, die unglaubliche Arroganz und Kälte der Täter, die keine Reue zeigen, machen fassungslos und zeigen gleichzeitig auf, wie wichtig es ist, diesen Teil unserer Geschichte nicht zu vergessen.
Ein grausamer, aber auch ein sehr wichtiger Roman, den ich nur weiterempfehlen kann.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 272 Seiten
Verlag: Eichborn Verlag
Erschienen am: 14. März 2013
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-384790529