Gesprochen von: Beate Himmelstooß und Susanne Schroeder
Spieldauer: 10 Std. 22 Min.
Inhalt
Der Roman handelt im Prinzip von zwei Waisenmädchen. Im Mittelpunkt der
des 1.Handlungsstranges steht Molly, deren indianischer Vater bei einem Autounfall
ums Leben gekommen ist und deren Mutter im Gefängnis sitzt. Sie hat bereits in mehreren Pflegefamilien gelebt und ist mit ihrem Verhalten immer wieder aneckt. Auch in ihrer derzeitigen Familie fühlt sie sich nicht wohl. Inzwischen ist sie 16 und versteckt sich hinter der Maske einer
Gothic-Anhängerin. Als begeisterte Leseratte wird sie erwischt,
wie sie den abgegriffenen Roman "Jane Eyre" aus der Bibliothek
stiehlt. Jack, mit dem sie sich an der High School angefreundet hat,
organisiert ihr einen Stelle bei einer 92jährigen Lady, bei der seine Mutter arbeitet und die ihren Speicher
entrümpeln will, so dass Molly dort ihre Sozialstunden ableisten kann und nicht ins Gefängnis muss.Diese alte Dame -Vivian Daly - ist die 2.Waise, deren Geschichte abwechselnd mit
der Mollys, allerdings aus der Ich-Perspektive, erzählt wird. Als
irische Einwanderer hat ihre Familie in New York gelebt, bis alle vermeintlich bei einem Wohnungsbrand ums Leben kommen. Alle, bis auf Nive Power, der ursprüngliche Name von Vivian. Die children's aid
society nimmt sie auf und mit anderen Waisenkindern wird sie im sogenannten Orphan Train gen Westen geschickt.Quelle: Wikipedia |
Mehr als 250.000 Waisenkinder aus den Slums New Yorks oder Bostons wurden zwischen den 1850er- und 1920er-Jahren in Eisenbahnzügen in den Westen Amerikas geschafft, wo sie eine neue Familie und Heimat fanden. Dass es einige dieser Waisen in hohe Staatsämter brachten, hat die "Waisenzüge" lange mit dem Nimbus der zupackenden Barmherzigkeit versehen.
Bakers Roman räumt mit diesem Mythos auf, indem der am Beispiel von Nive bzw. Vivian erzählt, was diese Kinder teilweise erlebt haben.
Wie auf einem "Sklavenmarkt" werden sie auf eine Bühne gestellt und die Familien suchen sich ein Kind aus. Nive findet erst auf dem 2.Bahnhof in Minnesota ein Ehepaar, das sie mit zu sich nimmt - als Nähhilfe für ihre Damenschneiderin. Da ist sie ist neun Jahre alt. Es ist im Prinzip eine andere Form der Sklaverei. Sie erfährt weder Liebe noch Zuneigung, muss auf einem zugigen Flur übernachten, erhält nur das Notwendigste zu essen und darf die Schule nicht besuchen, damit sie als Näherin ihre Arbeit verrichten kann.
In der Weltwirtschaftskrise muss Nive die "Familie" aus finanziellen Gründen verlassen und gerät in eine Familie, in der bereits 4 Kinder unter extrem ärmlichen Verhältnissen leben. Während die Mutter nur schläft, will der Vater nicht arbeiten, sondern als Farmer und Jäger alleine zurecht kommen. Der einzige Lichtblick ist der Besuch der Schule und ihre Lehrerin Mrs Larson, die ihr auch hilft, eine neue Familie zu finden, nachdem sie unverschuldet die Farmerfamilie verlassen muss. So wird sie schließlich zu Vivian und findet einen freundlichen Platz bei den Nilsons.
Aber erst Jahre später, als Molly sie für ein Projekt für den Geschichtsunterricht interviewt, öffnet sich die alte Dame und erzählt ihre Lebensgeschichte, die noch weitere Schicksalsschläge enthält.
Gegenseitig helfen sich die beiden so unterschiedlichen Frauen, so dass der Roman in einem versöhnlichen Ende gipfelt.
Bewertung
Der Roman "Der Zug der Waisen" war in den USA ein großer Erfolg und hielt sich monatelang an der Spitze der New-York-Times-Bestsellerliste.
Es zeigt die schwarze Seite eines Unternehmens, das manchen Betroffenen als eine andere Form der Sklaverei erschien. Denn statt auf Liebe und Zuwendung trafen viele Kinder nur auf kühle Berechnung und Eigennutz. Viele wurden als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, misshandelt, vernachlässigt. (Rezension aus Der Welt)
Das ist auch das Erschreckende dieser gut erzählten Geschichte - sich vorzustellen, wie man als Neunjährige in eine neue Umgebung geworfen wird, die einen lediglich als kostenlose Arbeitskraft ansieht. Der Autorin gelingt es, die Gefühle und die Situation der kleinen Nive so darzustellen, dass mir die Figur schnell ans Herz gewachsen ist. Auch für Molly empfindet man Verständnis - denn auch sie ist als sympathische Figur -trotz ihres Schutzwalls - angelegt.
Die Verknüpfung zwischen Gegenwart und Vergangenheit und die Parallelität der beiden Lebensgeschichten zeigen auf, dass das Gefühl der Verlorenheit und Nichtzugehörigkeit -trotz Verbesserung der Bedingungen in den Pflegefamilien - dasselbe geblieben ist.
Die Geschichte überfordert die Zuhörer nicht mit grausamen Details und versöhnt mit einem - vielleicht etwas zu weich gezeichnetem - guten Ende.
Aber man muss dem Roman zu Gute halten, dass er auf diese "dunkle" Geschichte der USA aufmerksam macht und für das Thema sensiblisiert.
Daher von meiner Seite eine klare Empfehlung, das Buch zu lesen oder zu hören.
Ein Argument für das Hörbuch sind die beiden hervorragenden Sprecherinnen, die mich mit ihrer Darstellung überzeugt haben.