Sonntag, 28. Februar 2016

Lorenz S.Beckhardt: Der Jude mit dem Hakenkreuz

- eine Biographie. Lorenz S. Beckhardt erzählt die Geschichte seines Großvaters Fritz Beckhardt - dem Juden mit dem Hakenkreuz.

Buchdaten
Taschenbuch: 480 Seiten
Verlag: Aufbau Taschenbuch
Erschienen am: 14. Januar 2016
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 374663203X
ISBN-13: 978-3746632032

Ganz herzlich möchte ich mich beim Aufbau Verlag bedanken, der mir dieses Rezensionsexpemplar zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt
Die Beckhardts gehörten dem liberalen Judentum an, die sich immer als Deutsche verstanden. Unschwer zu erkennen an den Vornamen -Fritz, Kurt, dessen Sohn und schließlich Lorenz, der erst als Erwachsener von seinen jüdischen Wurzeln erfährt und sich im Alter von 45 Jahren beschneiden lässt.

Lorenz Beckhardt rollt die Geschichte seiner Familie auf und das sehr akribisch. Am Anfang geht er dabei sehr assoziativ vor, schildert zunächst die Rückkehr Fritz nach Sonnenberg im Jahre 1950. Dort hat er 1926 den Kolonialwarenhandel von seinem Schwiegervater übernommen und um eine Kaffeerösterei erweitert. Er schildert das Ausbleiben der Kundschaft, die sich erst allmählich wieder einstellt. Kurt wird diesen Laden weiterführen und auch Lorenz wächst mit darin auf. Ausgehend von eigenen Kindheitserinnerungen z.B. an seine Zeit in einem katholischen Internat, zieht Lorenz immer wieder Parallelen zu seinem Großvater.
Er geht bis zu seinen Urgroßeltern zurück und verfolgt vom 19.Jahrhundert an die Ansiedlung seiner Familie sowohl väter- als auch mütterlicherseits rechts und links vom Rhein. Sehr interessant sind dabei die Informationen, die man über das Leben der Juden  unter der Besetzung Napoleons und innerhalb des Deutschen Bundes erhält. So ruft Beckhardt in Erinnerung, dass es bereits zu allen Zeiten judenfeindliche Gesetze, wie z.B. eine Extrasteuer für Juden im Jahre 1690, "um den Wiederaufbau des Landes zu finanzieren" (S.36) gegeben hat. Juden durften nur zerstörte Häuser kaufen, "um sie wiederaufzubauen. Unzerstörte Häuser waren Christen vorbehalten." (S.36)

Lorenz Beckhardt erzählt von seinem Wunsch in die Bundeswehr einzutreten, verändert jedoch seine politischen Ansichten und avanciert vom JU-Mitglied zum Kommunisten. Er tritt aus der Kirche aus und schlägt den Bogen zu seinem Großvater, der über den Turnerverein zum Soldaten im 1.Weltkrieg wird.
"Mit dem preußischen Wehrgesetz vom 3.September 1814 wurde für Juden ab dem 20.Lebensjahr sogar die Wehrpflicht eingeführt", d.h. sie durften Soldaten werden, was sie als Würde, nicht als Pflicht empfanden. (vgl. S.38) Allerdings blieb der Offziersgrad den Christen vorbehalten.

Fritz Beckhardt gelingt es den 1.Weltkrieg als Helden zu überleben, er macht sogar eine Ausbildung zum Piloten und erhält zahlreiche Auszeichnungen, was von einem außergewöhnlich tapferen Soldaten zeugt.
"Ich habe die Medaillen einer Handvoll Experten aus der Sammlerszene für Orden und Ehrenzeichen gezeigt. Fritz sei einer >der höchst dekorierten Mannschaftsdienstgrade im 1.Weltkrieg< gewesen (...). Was die Herren begeistert, ist ein Eisernen Krezu mit einem Lorbeerkranz, goldenen Schwertern und einem Preußenadler, das die Inschrift >Vom Fels zum Meer< trägt. 1936 erscheint eine Liste der Träger des >Inhaberkreuzes>, auf der die Namen zweier Juden fehlen: Edmund Nathanael und Fritz Beckhardt." (S.15)
In der Schatulle verbirgt sich auch Hakenkreuz Medallion, das den Autor dazu veranlasst die Geschichte seines Großvaters, der noch während Lorenz´erstem Lebensjahr gestorben ist, aufzurollen.
Das hat mich zu Beginn sehr irritiert, denn auf Fritz Flieger (auch auf dem Cover zu sehen) ist ein großes Hakenkreuz-Symbol abgebildet. Die Internetseite "Zukunft braucht Erinnerung" gibt folgende Auskunft:

Das Hakenkreuz ist keine Erfindung der Nationalsozialisten. Als religiöses Symbol findet es sich beinahe weltweit in unterschiedlichsten Kulturen, in China, Indien, Griechenland, bei den Kelten, den Germanen und nordamerikanischen Indianern. Soweit es sich noch rekonstruieren lässt, symbolisierte das Hakenkreuz häufig das Sonnenrad oder stand für das Leben schlechthin. In Teilen der altindischen Mythologie galt die „Svastika“, wie das Hakenkreuz dort genannt wurde, als Symbol des vollkommenen Lebens: Ausgehend vom Lebenszentrum symbolisierten die vier Arme die Möglichkeiten menschlicher Entwicklung: Gott werden, in die Hölle verdammt werden, Wiederkehr als menschliches Wesen oder als niederes Tier. In der jüdisch-christlichen Überlieferung dagegen spielte das Hakenkreuz keine Rolle.  (Vorgeschichte des Hakenkreuz-Symbol)

Fritz erzählt, "eine feindliche Kugel sei an der Brusttasche abgeprallt, in der er den Tailsmann getragen habe, den ihm seine Schwester geschenkt habe. Das silberne Hakenkreuz habe ihm das Leben gerettet." (S.85) Das erklärt, warum Fritz es auf seinen Flieger gemalt hat. So wurde aus ihm der Jude mit dem Hakenkreuz, er ziert sogar das Titelbild des Buches: Jüdische Flieger im Weltkrieg, das 1925 im Schild-Verlag erschienen ist.

Als Pilot ist der gleichen Staffel wie Göring zugeordnet, den Fritz "als selbstsüchtigen und eitlen Narziss, der sich selbst gerne reden hörte" (S.82), charakterisiert.
Die Kriegsverherrlichung und die Freude an den Luftkämpfen befremden Kurt, Fritz Sohn ebenso wie den Autor selbst. Es ist schwierig, diese Begeisterung nachempfinden zu können.

Nach dem Krieg wird Fritz in seiner Heimat Wallertheim als Held gefeiert, während die Dolchstoßlegende verbreitet wird. Als Reaktion auf die antisemitischen Tendenzen gründet sich 1919 der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF), dessen wichtiges Mitglied Fritz wird. Als er 1926 nach Sonnenberg umzieht, ist er in jüdischen Kreisen recht bekannt.
Im Folgenden schildert Lorenz Beckhardt sehr eindrucksvoll am konkreten Beispiel seiner Familie (Urgroßeltern Emil und Johanna, seine Großmutter Rosa Emma und Fritz sowie sein Vater Kurt und seine Tante Hilde), wie der Antisemitismus und der erstarkende Nationalsozialismus um sich greifen und das Leben seiner Familie immer stärker beeinträchtigen.
Die geschichtlichen Daten sind letztlich bekannt, aber es ist der konkrete Fall, der diese Geschichte erlebbar macht und einem bewusst vor Augen führt, dass sich Fritz mitnichten primär als Jude gefühlt hat, sondern als Deutscher, der im 1.Weltkrieg für sein Vaterland gekämpft hat. Ein Rabbiner, mit dem Lorenz Beckhardt auf einer Rabbinerkonferenz über seinen Großvater spricht, äußert sich über Fritz:
"Ich kann mir nicht vorstellen, wie die deutschen Juden vor Hitler gefühlt haben, wie sie ihre deutsche Identität gelebt haben, dass sie sich als Deutsche fühlten, während das Judentum nur eine Religion für sie war" (S.118).
Lorenz Beckhardt gelingt, dieses Unverständnis begreiflich zu machen, verschweigt aber auch nicht die Schattenseiten seines Großvaters. So hat dieser bis zu seiner Verhaftung ein offenes Verhältnis mit dem Hausmädchen Lina - mit dem Wissen seiner Frau.
Und er macht deutlich, dass es auch unter den Juden selbst viele Anhänger des Nationalsozialismus gab - bevor es zu den Massendeportationen und Vergasungen gekommen ist.
So lobt Dr. Hans Ries im "Schild", der Zeitschrift des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten (RjF), die nationalsozialistische Lebensauffassung und das Führerprinzip. Die Zionisten boten der NSDAP sogar "die Mitarbeit bei der Lösung der Judenfrage" an. (S.180), da sich aus "einer arischen Rasse (...) folgerichtig auch die Existenz einer jüdischen Rasse" ergab.

1937 wird Fritz verhaftet, der Grund aber von Rosa Emma totgeschwiegen, um ihre Kinder zu schützen. Die täglichen Anfeindungen und der drohende Krieg überzeugen sie schließlich davon, ihre Kinder mit den sogenannten Kindertransporten nach England zu schicken. Kurt erlebt dort die Bombardierungen mit und ist begeistert von Churchills Reden. Im Jahre 1941 erhält Kurt einen Brief seiner Eltern - Fritz ist frei und sie sind England.

Im Anschluss daran beschreibt Lorenz Beckhardt, was Fritz in der Zwischenzeit widerfahren ist. Wegen Rassenschande hat ihn sein ehemalige Haushilfe angezeigt, seine Geliebte Lina ist schwanger. Aufgrund seiner Verdienste im 1.Weltkrieg wird er nur zu Gefängnis statt zu Zuchthaus verurteilt und bewahrt damit seine militärisch Ehre. Trotz allem wird er nach Buchenwald deportiert, seine "Beziehungen" zu Göring erwirken jedoch seine Entlassung, unter der Voraussetzung, dass er Nazi-Deutschland verlässt. Über Irrungen und Wirrungen gelingt ihm - erneut unter unfreiwilliger Hilfe Görings - die Einreise nach England und die Wiedervereinigung mit den Kindern.
Der letzte Teil der Biographie erzählt von der Rückkehr der Familie nach Deutschland (1950) und es ist vor allem dieser Teil der Geschichte, die sehr akribisch aufzeigt, dass trotz der Zerstörung der Diktatur und des Wiederaufbaus einer Demokratie der Antisemitismus weiterhin in den Köpfen vieler Deutscher weiterlebt. Es ist teilweise beschämend lesen zu müssen, welchen Unbill Fritz bei der Forderung nach Entschädigung ertragen muss.


Zwei Zitate berühmter Philosophen treffen den Kern der Situation in Deutschland nach dem Krieg:
Theodor Adorno zu Thomas Mann (1950):
"Ich habe, außer ein paar rührend marionettenhaften Schurken von altem Schrot und Korn, noch keinen Nazi gesehen, und das keineswegs bloß in dem ironischen Sinne, dass keiner es gewesen sein will, sondern in dem weit unheimlicheren, dass sie glauben, es nicht gewesen zu sein." (354)

Hannah Arendt über die Deutschen:
"Lebende Gespenster, die man mit Worten, mit Argumenten, mit dem Blick menschlicher Augen nicht mehr rühren kann. Überall fällt einem auf, dass es keine Reaktion auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine irgendwie absichltiche Weigerung zu trauern oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt." (S.373)

Sehr akribisch zeichnet Lorenz Beckhardt die Verhandlungen seines Großvaters und Vaters mit den Behörden und dem Gericht nach, sein verzweifelter Kampf nach Gerechtigkeit und nach Rückerstattung und die Weigerung dem gerecht zu werden und zu entsprechen. In all den Einzelheiten ist dies beim Lesen recht mühsam und quälend, gleichzeitig bildet es jedoch genau ab, welche "Folterwerkzeuge die Wiedergutmacher in ihren Gesetzesschubladen versteckten." (S.369)

Im letzten Teil seiner Biographie geht Lorenz Beckhardt auf die Geschichte der Familie seiner Mutter ein. Seine Großeltern lebten in einer sogenannten "Mischehe", so dass beide den Krieg überlebten. Da seine Mutter getauft war, ist auch der Verfasser selbst getauft und christlich erzogen und erfährt erst als Erwachsener, dass er jüdische Wurzeln hat.


Bewertung
Etwas schwierig ist es am Anfang in die Biographie hineinzukommen, da der Erzähler zwischen den einzelnen Zeitebenen hin- und herspringt. Neben seinen eigenen Erinnerungen fügt er die seiner Verwandten ein, und immer wieder werden entsprechende geschichtliche Informationen gegeben. Dieser Wechsel zwischen historischen Fakten, Familiengeschichte und persönlich Erlebten macht aber insgesamt den Reiz dieser Biographie aus. Besonders gut wird am Beispiel seines Großvaters deutlich, wie der glühende Patriot zunächst vor der zunehmenden Judenfeindlichkeit die Augen verschließt. Die Ohnmacht, dass seine Orden und seine Leistungen im 1.Weltkrieg ihn nicht mehr schützen, wird mit den Händen greifbar. Besonders erschüttert und vor allem beschämt hat mich die Schilderung der Ereignisse nach dem Krieg - die mangelnde Aufarbeitung des Holocausts unmittelbar nach dem Krieg ist zwar bekannt, aber die Fortsetzung der "Folter" der Opfer, denen bei der Wiedergutmachung und Rückerstattung möglichst viele Steine in den Weg gelegt wurden, war mir in dem Ausmaß nicht bewusst.

Ein wichtiges Buch - informativ und doch persönlich, das den Antisemitismus vor, während und nach dem 2.Weltkrieg in Deutschland bis in die dunkelste Ecke hinein ausleuchtet.