Donnerstag, 5. Mai 2016

Natalka Sniadanko: Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen

- ein zeitgenössischer Roman, der die Geschichte eines Aufbruchs erzählt.

Buchdaten

Gebundene Ausgabe: 352 Seiten

Verlag: Haymon Verlag

Erschienen am: 23.Februar 2016

ISBN-13: 978-3709972298


Mein besonderer Dank gilt dem Haymon Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.


Inhalt
"Heute früh wurde in der Salzstraße neben dem Haus Nummer 5 die Leiche einer Frau gefunden, die sich aus einem Fenster des dritten Stocks gestürzt hat. Zuvor hatte sie die Wohnungsinhaberin, die zweiundneunzigjährige Hanna Kopyryz, vergiftet", las Chrystyna auf der ersten Seite der Zeitung, die auf dem Küchentisch lag. "Ersten Ermittlungen zufolge handelt es sich bei der Toten höchstwahrscheinlich um ein illegale Migrantin aus der Ukraine, die zweiunddreißigjährige Solomija Krawez. Sie war die Pflegerin des Opfers."
Solomija Krawez teilte sich mit Chrystyna ein Zimmer. Noch gestern Morgen hatten sie sich beim Frühstück unterhalten. (S. 7)

Chrystyna uns Solomija stammen aus der Ukraine, aus Lwiw, und haben in einer Musikschule zusammen gearbeitet, und als diese geschlossen hat, sich entschieden das Land zu verlassen. Eine Bekannte rät ihnen nach Athen zu gehen, da sie selbst dort Arbeit gefunden hat.
Zunächst erfahren die Leser/innen, dass Chrystynas als Putzfrau in Berlin arbeitet, wobei sie die Schuldgefühle eines Ehepaares, die es als Unternehmer zu Geld gebracht haben, ihr gegenüber auf sehr treffende Art und Weise analysiert:

Jetzt schafften sie es irgendwie, ihre postproletarische Solidarität mit dem Stolz frischgebackener Unternehmer zu vereinbaren ebenso wie den Drang, sich etwas zu leisten, was früher unerreichbarer Luxus gewesen war, mit dem Versuch zu vereinen, denen gegenüber loyal zu bleiben, für die jedweder Luxus immer noch unerreichbar war. Das wäre sicher einfacher gewesen, wenn ihre Putzfrau nicht Chrystyna gewesen wäre, die ein Musikstudium absolviert und jahrelang unterrichtet hatte, sondern ein rustikale Frau vom Lande. (S. 11)

Dann erst wird der Weg der beiden Frauen von Lwiw aus nach Berlin im Rückblick aus der Sicht Chrystynas geschildert.
Sie erzählt, wie demütigend ihre Erfahrungen sind, vor der polnischen Botschaft anzustehen, und der Willkür der Beamten ausgesetzt zu sein. So kommt es, dass Chrystyna zuerst allein ein Visum für Polen erhält, von wo aus sie nach Berlin gelangt.
Dort wird sie auf dem Weg zum Flughafen von der Anwältin Eva angefahren, die sich um illegale Einwander/innen kümmert. Chrystyna, die ihren Flug verpasst, beschließt in Berlin zu bleiben, wo sie zunächst als Pflegerin arbeitet und später auch als Putzfrau. Erst ein Jahr später kommt ihre Freundin Solomija nach.
Die beiden Frauen verbindet einerseits eine Freundschaft, andererseits auch eine intensive sexuelle Beziehung, wobei nur Chrystyna homosexuell ist, ihre Freundin dagegen immer auch wieder erfolglose Beziehungen mit Männern führt.
Allmählich scheint sich aber eine ernsthaftere Bindung zwischen Chrystyna und Eva anzubahnen.
Chrystyna erscheint als ein zutiefst verunsicherter Mensch mit kaum vorhandenem Selbstvertrauen, weigert sich aber wie Eva die Hilfe einer Psychotherapeutin anzunehmen, deren Diagnosen mit ironischer Distanz daherkommen:

Evas Körper war nach Ansicht der Psychotherapeutin ein sichtbares Abbild ihrer emotionalen Probleme: Der etwas zu kurze Hals und der immer leicht nach vorn geneigte Kopf waren deshalb so geworden, wei sie sich immer vor dem abwertenden und vernichtenden Bilick ihrer Mutter geduckt hatte (...) (S.167f.)

Obwohl Chrystyna schnell Deutsch lernt, macht sie die Erfahrung, dass sie den Subtext vieler Bemerkungen nicht versteht, da sie in einer anderen Kultur aufgewachsen ist.

Das Eintauchen in die fremde Sprache war nur eine erste, oberflächliche Berührung mit einer fremden Welt, die aus vielen Schichten bestand, die sich nur langsam und unwillkürlich, manchmal auch gar nicht erschlossen. (S.146)

Solomija, die aufgrund ihrer erotischen Ausstrahlung, Probleme hat, als Kindermädchen zu arbeiten, findet schließlich eine Stelle als Pflegerin bei Hanna Kopyryz, die ihre Lebensgeschichte Solomija erzählt und die in den Roman eingebettet ist. Hannas Leben ist bestimmt von der deutschen Besatzung der Ukraine im 2. Weltkrieg, dem Zerriebenwerden zwischen den Russen, den Partisanenkämpfern und den Besatzern. Obwohl sie ihr Leben gerafft wiedergibt, wird die Grausamkeit, mit der sie konfrontiert wurde, erfahrbar.
Ihr Sohn Stefan, inzwischen deutscher Staatsbürger, bietet Solomija die Ehe an, damit sie legal in Deutschland bleiben kann. Am Ende des Romans, der insgesamt nur einen Tag umfasst, reflektiert Chrystyna die verschiedenen Ehen, vor allem die ihrer Eltern oder des Paares, bei denen sie putzt, und denkt darüber nach, ob es Zeit sei, eine feste Bindung mit Eva einzugehen.
Sie zögert ihre Ankunft in ihr Zuhause hinaus, damit das Unfassbare - der Tod Solomijas nicht wahr wird - der erst auf der letzten Seite geklärt wird.

Bewertung
In der Ankündigung des Verlags steht: "Thelma und Louise in Berlin - frech, lebendig, überraschend."
Das trifft es meines Erachtens nicht, denn der Roman zeichnet sich gerade nicht durch actionreiche Handlung aus, sondern durch leise Töne, viele Reflexionen, Rückblicke und Gedanken Chrystynas zur Heimat, zum Fremdsein, zum eigenen Welt- und Selbstbild, das nicht so selbstbewusst wie Thelma oder Louise daherkommt.
Erzählt wird die Geschichte zweier Migrantinnen aus der Ukraine, wobei die Psyche der Figuren, auch derjenigen, denen sie begegnen - wie die Arbeitgeber Chrystynas, Eva oder Stefan - im Mittelpunkt stehen. Die den Roman beherrschende Frage ist, warum die Figuren so handeln, was hat sie zu dem gemacht, was sie heute sind und welche Rolle ihre Herkunft, ihre Kindheit, ihre Beziehungen dabei spielen - und nicht so sehr, das, was sie tun.
Das ist manchmal beim Lesen anstrengend und man kann nicht über die Seiten hinweg fliegen, da in ausführlichen Reflexionen der eigenen Lebensweg, das Seelenleben in der personalen Perspektive beleuchtet wird.
Der Roman zeigt aber auch die Schwierigkeiten in einem fremden Land heimisch zu werden - am Beispiel verschiedener Figuren wie Hanna, die erst im Alter nach Deutschland kommt und mit dieser Lebenswelt nicht zurecht kommt. Aber auch viele kleinere eingebettete Geschichten beleuchten immer wieder die Migrantensituation und die damit verbundenen Hürden. Ein Roman, der in die Zeit passt und dessen sympathische Protagonistin durch den Roman trägt.