Montag, 13. November 2017

Bernd Mittenzwei: Die zweite Luft

- eine Novelle.

Taschenbuchausgabe, 182 Seiten
A. Fritz Verlag, 5. Juni 2017


Das Leseexemplar wurde mir vom Verlag zur Rezension angeboten. Da ich schon einige schlechte Erfahrungen mit solchen Anfragen gemacht habe, war ich zunächst kritisch. Doch die Thematik der Novelle hat mich angesprochen und überzeugt.

Worum geht es?
Der Roman spielt im Jahre 1986 in Altdorf, einer Stadt in der Nähe von Nürnberg. Zu Beginn folgen wir der 40-jährigen Lydia auf ihrem morgendlichen Lauf aus der Stadt heraus, die ihr jahrelang Heimat gewesen ist.

"Dies war ihr Nest gewesen, ihre Geborgenheit, ihr Platz im Leben. Doch das war vorbei, es bedeutete nichts mehr. Dieser ganze Mikrokosmos, der ihre Welt gewesen war, diese ökologische Nische für Kleinstädter, dieser Tümpel, in dem jede Generation aufs Neue ihren Laich ablegte, sich vermehrte, fraß und starb, dessen Gerüche sie ihr Legen lang aufgesogen hatte, sie hatte sich satt gelebt darin." (S.10)

Lydias Leben ist im Wandel, auf ihrem langen Lauf gedenkt sie ihrer besten Freundin Sulla, die sie einst aus einer heiklen Situation gerettet hat und die in Südafrika gestorben ist. An ihre Arbeitsstelle, an ihren Exfreund und als Leser*in spürt man, dass Lydia davon läuft...

Der zweite Protagonist ist Stenger, verheiratet und zum Abendessen mit den Nachbarn geladen. Eine gesellschaftliche Verpflichtung, der er sich gerne entziehen will. Eoch eine Schuld lastet auf ihm, an die ihn seine Frau erinnert. Etwas, das ihn niederdrückt und ihn zum Alkohol greifen lässt.

"Andere Männer hatten es da leicht. Sie spielten leidenschaftlich Fußball, schraubten an imposanten Motorrädern, bastelten respektable Modellflugzeuge, planten aufregende Reisen oder bauten repräsentative Gartenhäuser. All dies stand ihm nicht zur Verfügung. Dies konnte er nicht, jenes wollte er nicht, und was er gewollt und gekonnt hätte, das ließ er bleiben, damit es ihm nicht misslingen konnte. Bis in alle Ewigkeit ist Sisyphos verdammt." (S.17)

Auch das Abendessen bei den Nachbarn misslingt, da Stenger sich haltlos betrinkt - mit fatalen Folgen.

Die dritte Figur ist der Zivildienstleistende Stefan, der in einem Altenheim arbeitet und sich um Theodor Macke, eine alten Herrn mit "schleimigen Altmännerphantasien" (S.31) kümmert.
Stefan ist ein Einzelgänger, ein Junge, der in seiner Kindheit wenig Liebe erfahren hat und sich in der Gegenwart der Alten gebraucht und geborgen fühlt. Doch dann macht er eine Dummheit und glaubt, er müsse fliehen. Mit dem Fahrrad macht er sich auf den Weg.

Genau wie Stenger nach dem katastrophalen Abend mit den Nachbarn in sein Auto steigt und davon  fährt.

Bewertung
Drei Menschen, die an einer Wegkreuzung stehen und weglaufen wollen, die ihren Weg suchen und Möglichkeiten ausloten und dann überraschend zusammen treffen.
Da der Roman jeweils aus der personalen Perspektive dieser Personen erzählt wird, taucht man als Leser*in intensiv in die jeweilige Gedankenwelt ein. Dem Autor gelingt es ein stimmiges Bild der Gefühlswelt der Figuren zu zeichnen - sehr authentisch die Situation, als Stenger im Bad betrunken versucht, die Richtung wieder zu finden. Die Sprache ist teilweise etwas überladen, aber immer wieder finden sich originelle Bilder und eindringliche Aussagen, die nur manchmal zu plakativ daherkommen. Insgesamt eine sehr positive Überraschung, eine unterhaltsame Novelle, die nachdenklich macht und ganz wunderbar das positive Gefühl beim Laufen beschreibt.

Die Schlüsselszene für mich ist, als Stefan und der alte Macke einmal zufällig Lydia und Sulla beobachten. Sulla, die ihrer Freundin zeigen will, dass man immer die Wahl hat - bei jeder Entscheidung. Dieses Gespräch geht Lydia beim Laufen durch den Kopf - "etwas anderes machen, das ganz andere".

Eine positive Überraschung!