- Innenansichten eines Fossils.
Leserunde auf whatchareadin
Gebundene Ausgabe, 160 Seiten
Frankfurter Verlagsanstalt, 7. März 2017
Vielen Dank an den Verlag für das Leseexemplar.
Inhalt
Walter Nowak liegt im Badzimmer, unbeweglich. Seine Frau Yvonne ist auf einer Tagung und kommt hoffentlich wieder.
"Seitdem ich Yvonne kenne, war ich noch nie länger, wir waren noch nie länger als länger als zwei Tage getrennt. Das ist nun wirklich. Kein Beinbruch, das ist kein Weltuntergang. Das lässt sich alles erklären, Yvonne wird es verstehen. Ich erzähle es ihr. Wo fange ich an?" (S. 5)
Der Roman ist ausschließlich im Gedankenstrom aus Walters Perspektive verfasst, was eine besondere Dynamik erzeugt und einen tiefen Einblick in die Welt dieses 68-jährigen Mannes ermöglicht. Wie eine Diskussionsteilnehmerin in der Leserunde so treffend bemerkt hat, gleichen die Sätze einer "Stickarbeit".
Walter erzählt (allerdings im Präsens, was zu Beginn verwirrt), wie er wie jeden Morgen ins Schwimmbad gefahren ist, um seine Bahnen zu ziehen und beim Anblick einer jungen Frau mit Pferdeschwanz - eine Frisur, die schon seine Mutter getragen hat und die ihn schwach werden lässt - verfehlt er das Ende der Bahn und knallt gegen den Beckenrand.
Ein Kopfverletzung, die ihn zunehmend verwirrter werden lässt. Wann genau er im Bad liegen bleibt und sich das abspielt, was er vor den Augen der Leser*innen ausbreitet, darüber haben wir auch diskutiert. Letztlich ist die Chronologie der Ereignisse weniger wichtig als das Leben selbst, von dem Walter erzählt.
Von seiner Kindheit als Bastard und dem Wunsch Elvis (der eine Zeit lang in Walters Heimatstadt stationiert gewesen ist) sei sein Vater. Von der Ablehnung seines Großvaters, der den ungeliebten Enkelsohn los werden will.
"Mein Großvater hat mich einmal, der hat mich zweimal, hat mich verdroschen, wann es nur ging. Doch irgendwann. Hielt ich die Axt in der Hand. Danach war Schluss mit den Schlägen." (S. 48)
Er erinnert sich an die Ausgrenzung, die er in der Schule und von Mitschülern erfahren hat - bis auf einen, dessen Tod für ihn ein einschneidendes Erlebnis ist.
Walter stellt sich den Leser*innen als Mann dar, der seine Probleme verdrängt, statt sie sie aufzuarbeiten.
"Der Paartherapeut, dieser Idiot. Ich bitte Sie, ich bin ein erwachsener Mann, ich werde jetzt nicht anfangen, ich werde Ihnen jetzt nicht vorheulen, wie schlimm meine Kindheit war. Meine Mutter hat alles getan, das war eine andere Zeit. Sie hat getan, was in ihrer Macht stand." (S.13)
Ein Selfmade-Man, der stolz auf das ist, was er erreicht hat.
"Wer schläft denn bis zwölf. Das ist nicht der Igel, das bin doch nicht ich. Wer bis zwölf Uhr schläft, erreicht nicht, was ich errecht habe. Der boxt sich nicht durch, macht nicht die mittlere Reife. Der findet keine Lehrstelle beim besten Meister. Wer bis zwölf schläft, kann die Lehre vergessen, der wird nicht Elektriker. Erlangt nicht die Gunst seines Chefs. Wer bis zwölf Uhr schläft, übernimmt keine Firma. Arbeitet nicht wie besessen, revolutioniert nicht den Markt." (S.52)
Der aber kein Verständnis für seinen Sohn Felix hat, der nicht in seine Fußstapfen treten will und zu dem er keine Beziehung aufbauen kann. Er selbst hat nie einen Vater kennen gelernt, begibt sich aber auch nicht auf Spurensuche - selbst als sein Sohn sich für seinen unbekannten Großvater interessiert, verweigert sich Walter. Eine gemeinsame Reise in die USA wird zur Katastrophe.
Seine erste Ehe scheitert, seine zweite Frau - Yvonne - ist 20 Jahre jünger, ein Umstand, auf den Walter stolz ist. Das positive Bild, das er zunächst von Yvonne zeichnet, erhält jedoch Kratzer.
Die Zeit, in der Yvonne abwesend ist, gerät zum Desaster. Walter richtet ein heilloses Chaos im Haus an und es entsteht zunehmend der Eindruck, als habe er Erinnerungslücken. Immer wieder wandern seine Gedanken zur seiner Untersuchung - offensichtlich steht er vor einer Prostataoperation - ein Angriff auf seine Männlichkeit. Und es bleibt die Frage, warum er im Bad am Boden liegt, die sich erst ganz am Ende beantwortet.
Bewertung
Der Roman zeichnet das Psychogramm eines älteren Mannes, der sein Leben lang seine Problem verdrängt hat und die jetzt, da er unbeweglich zum Nachdenken gezwungen ist, auf ihn einströmen. Der fehlende Vater, die Ausgrenzung, die Nähe zur Mutter, die Untreue seiner ersten Frau gegenüber, die er völlig verdrängt hat. Empathie ist wahrlich nicht seine Stärke.
Sein Denken wird von Vorurteilen geprägt, von festen Glaubenssätzen, was sein darf und was nicht - Fitness, gut auszusehen im Alter, gehört für ihn unbedingt dazu. Er muss sich immerzu beweisen.
Seine Geilheit ist auch ein Tatsache, die er verdrängt, sie hat ihn in die unglückselige Situation im Bad gebracht, aber er kann natürlich alles erklären.
In seiner Erinnerung taucht immer wieder sein Sohn auf, die Enttäuschung, dass er einen Beruf erlernt hat, der eines Mannes nicht würdig ist. Walter ist wirklich ein Mann vom alten Schlag. Mehrfach waren wir uns in der Diskussionsrunde einig, er sei ein Fossil, einer Generation angehörig, die am Aussterben ist.
Der Gedankenfluss wirkt dabei völlig authentisch, die Figur ist stimmig und glaubwürdig.
Eine sehr interessante Komposition, in der - wie in einem Puzzle - das Lebens dieses gescheiterten und bemitleidenswerten - auch darüber gab es unterschiedliche Ansichten - Mannes Schritt für Schritt zusammengesetzt wird, so dass am Ende eine Gesamtbild vor den Leser*innen ausgebreitet ist.
Was aus Walter wird? Das bleibt offen, zu befürchten ist, dass Yvonne ihren eigenen Weg gehen wird.
Ein Roman, der mit seiner außergewöhnlichen Sprache und der Stimmigkeit der Figur auch den Deutschen Buchpreis verdient hätte.