Sonntag, 5. November 2017

John Banville: Die See

Man Booker Prize 2005

Kleine Leserunde bei whatchareadin

Gebundene Ausgabe, 224 Seiten
Kiepenheuer&Witsch, 15. August 2006


Inhalt
Max Morden kehrt an einen Ort (Ballyless) seiner Kindheit, an "Die See" zurück. Dort hat er immer seine Ferien in einem kleinen Chalet gemeinsam mit seinen Eltern verbracht.

"Wir kamen jeden Sommer im Urlaub hierher, viele Jahre lang, viele Jahre, bis mein Vater uns sitzen ließ und nach England ging, wie Väter es bisweilen taten, damals und eigentlich auch noch heute. Das Chalet war ein klassisches Holzhaus nur in verkleinertem Maßstab." (S.33)

Auslöser für die Rückkehr ist der Tod seiner Frau Anna, die nach schwerer Krankheit von ihm geht und um die er trauert.

Aus der Ich-Perspektive von Max werden in verschiedenen Zeitebenen die Erinnerungen an längst vergangene Ereignisse wach.
Manchmal springt der Ich-Erzähler unvermittelt von der Gegenwart in die Vergangenheit, wobei die Gedanken inhaltlich zusammengehören.
Auch innerhalb dessen, was geschehen ist, erinnert er sich nicht chronologisch. So setzt sich wie ein Puzzle die Vergangenheit - ein Sommer an der See, den Max als Junge erlebt hat -  Schritt für Schritt zusammen, was er als Erzähler selbst kommentiert:

"Und warum sollte ich mich wohl, anders als jeder dahergelaufene Melodramatiker, der Forderung verschließen, dass die Geschichte zum Schluss noch eine ordentlich überraschende Wendung braucht?" (S.196)

Eine große Bedeutung kommt in jenem längst vergangenen Sommer der Familie Grace zu. Bestehend aus den Eltern Carlo und Conny und den Zwillingen: der stumme Myles und die knabenhafte Chloe, sowie der Gouvernante Rose, die in die Villa "Zu den Zedern" einziehen. Ihre gesellschaftliche Stellung, die der Max´ überlegen ist, übt auf ihn eine besondere Faszination aus.

An jenen Ort kehrt auch der Witwer Max zurück.

"Die Villa heißt Zu den Zedern, wie eh und je." (S.9)

Inzwischen ist es eine Pension, geleitet von Miss Vavasour und dauerhaft bewohnt vom alten Colonel Blunden.
Max Tochter Claire begleitet ihn zunächst an die See. Einerseits liebt er sie, andererseits scheint er auch von ihr enttäuscht zu sein, da sie keine zweite Anna ist, und äußert sich abfällig über sie.

Außergewöhnlich gut gelingt es Banville die Atmosphäre, die Präsenz der See erlebbar zu machen, sie ist allgegenwärtig, man schmeckt sie, fühlt den Wind und hört die Wellen.

"An der See besteht alles aus schmalen Waagerechten, die ganze Welt reduziert sich auf ein paar lange, gerade, zwischen Erde und Himmel gezwängte Linien." (S.14)

Und man kann sich in die Gedanken und die erotischen Träume des 11-jährigen Max hineinversetzen, die sich zunächst um Conny Grace drehen, dann aber von der Mutter auf die Tochter übergehen.
Mit Chloe wird er zur eigenständigen Person, entdeckt zum ersten Mal sich selbst.

"Indem sie mich von der Welt loslöste und mich dadurch erkennen ließ, dass ich ein losgelöstes Wesen war, schloss sie mich von dem Gefühl der Immanenz allen Seins aus, von dem Allsein, das mich umfangen hatte, in dem ich bis dahin in mehr oder minder glücklicher Unwissenheit gelebt hatte." (S.142)

Neben diesen Erinnerungen an das, was in dem Sommer geschehen ist, wandern Max´ Gedanken immer wieder zur gemeinsamen Vergangenheit mit Anna. Wie sie sich kennen gelernt haben, ihre Heirat, die Beziehung zu ihrem Vater, wie sie von ihrer Krankheit erfahren haben und zu ihrem Tod und seiner Hilflosigkeit.

"Wir tragen die Toten nur so lange bei uns, bis wir selber sterben, und dann sind wir diejenigen, die eine kleine Weile mit herumgetragen werden, und dann ist es an denen, die uns tragen, selbst umzufallen und so geht es immer weiter, von Generation zu Generation, bis in unvorstellbare Ewigkeiten." (S.100)

Die Identitätssuche des Protagonisten ist meines Erachtens der Mittelpunkt des Romans. Max hinterfragt sein Handeln, reflektiert sein Verhalten und gelangt zu Erkenntnissen über sich selbst.
Den Fragen, wer er sein will, wer er geworden ist und welche Bedeutung Anna und die Ereignisse um Chloe in seinem Leben gespielt haben, nähert er sich langsam an.

"Früher habe ich mich  stets als eine Art Freibeuter gesehen, einen der jedermann mit dem Entermesser zwischen den Zähnen begegnet, aber heute muss ich eingestehen, dass das eine Selbsttäuschung war. Versteckt, beschützt, behütet sein, mehr habe im Grunde nicht gewollt." (S.54)

Bewertung
Über den Charakter des Protagonisten haben wir in der Leserunde am meisten diskutiert. Ist Max sympathisch? Zumindest ist er ein ambivalenter Charakter, der sehr darunter leidet, in eine Gesellschaftsschicht hinein geboren zu sein, in der er sich nicht zugehörig fühlt. Die Bekanntschaft mit den Graces führt ihm vor Augen, was er sein will und wohin er möchte. Insofern ist seine Heirat mit Anna, die aufgrund der illegalen Geschäften ihres Vaters Geld zur Verfügung hat, opportunistisch, andererseits liebt er sie und verzweifelt an ihrem Tod zutiefst.

Letztlich ist die Frage nach der Sympathie zweitrangig. Die Auseinandersetzung mit seinem Leben, die Suche nach Identität, das Rätsel um jene schrecklichen Ereignisse, die an der See geschehen sind, die Beziehung der Figuren zueinander in jenem Sommer, die Schritt für Schritt aufgedeckt werden, erzeugen einen Lese-Sog - trotz der Reflexionen und der Sprünge zwischen und innerhalb der Zeitebenen.
Die außergewöhnliche bilderreiche Sprache lädt dagegen immer wieder dazu ein innezuhalten und über das Gelesene nachzudenken.

Ein besonderer Roman und sicherlich nicht der letzte, den ich von John Banville gelesen habe. Vielen Dank an Literaturhexle, die mich auf die Leserunde aufmerksam gemacht hat und die genau wie ich von der wunderbaren Sprache des Romans angetan ist.