Lesekreis Bücherhütte
"Als wir Waisen waren" ist der 3.Roman, den ich von Ishiguro, der 2017 den Literaturnobelpreis gewonnen hat, lese.
Seinen berühmtesten Roman "Was vom Tage übrig blieb" fand ich herausragend, auch "Alles, was wir geben mussten" gefiel mir - die Idee Menschen als Organspender zu klonen, sie wie "normale Kinder" aufwachsen zu lassen, um sie dann "auszuschlachten", macht betroffen und am liebsten würde man eine solche Möglichkeit gerne ausblenden.
Auch im Roman "Als wir Waisen waren" führt uns Ishiguro unsere eigene Ignoranz vor Augen, zeigt uns den Krieg in all seiner Grausamkeit und einen Protagonisten, der unverdrossen seine eigenen Ziele verfolgt und - so haben wir es in unserem Lesekreis interpretiert - exemplarisch für die Kolonialmacht England steht.
Worum geht es?
Zunächst glaubt man, man habe einen Kriminalroman vor sich liegen. Der Ich-Erzähler, Christopher Banks erzählt im ersten Teil (Juli, 1930, London) davon, wie er sich nach seinem Abschluss in Cambridge dank seines Freundes Osbourne in der besseren Londoner Gesellschaft etabliert und seinen Traum, ein Detektiv zu werden, verwirklicht. Zu den Fällen, die ihn berühmt machen, werden jedoch keine näheren Umstände dargelegt und es wird auch nicht erläutert, wie er diese Fälle löst - eher untypisch für einen Kriminalroman.
Es stellt sich heraus, dass sein Berufswunsch aus dem Bestreben resultiert, das Verschwinden seiner Eltern in Shanghai Anfang 1911 oder 1912 aufzuklären.
Seine Kindheit hat er dort, im International Settlement, verbracht. Während sein Vater für eine Firma arbeitete, die den Opiumhandel unterstützte, wandte sich seine Mutter mit mutigen Kampagnen gegen diese subtile Unterdrückung der chinesischen Bevölkerung - mit Hilfe eines Freundes der Familie, Onkel Philip, der im weiteren Verlauf immer wieder auftaucht.
Eines Tages verschwindet sein Vater und der junge Christopher ist davon überzeugt, dass fähige Detektive ihn wieder finden werden. Mit seinem japanischen Freund Akira spielt er unermüdlich Szenen nach, in denen sein Vater aufgespürt wird.
Auch als seine Mutter kurz darauf ebenfalls entführt wird, will er Shanghai nicht verlassen,
"die Detektive bemühen sich sehr, meine Mutter und meinen Vater zu finden. Und es sind die allerbesten Detektive von Shanghai. Ich glaube, sie werden meine Eltern bestimmt sehr bald finden." (40)
Man mag dies als kindlichen Glauben abtun, doch beim Lesen entsteht nach und nach der Eindruck, das, was der Ich-Erzähler berichtet, sei nicht immer zuverlässig. Erste Diskrepanzen zwischen seiner Selbstwahrnehmung und der Realität werden deutlich. Als Osbourne sich erinnert:
"Mein Gott, zu Schulzeiten warst du wirklich ein merkwürdiger Vogel" (12),
gibt Banks vor, darüber nicht verstimmt gewesen zu sein. Obwohl er seinen Wunsch, Detektiv werden zu wollen, geheimhält, schenken ihm seine Freunde eine Lupe. Das sind erste Hinweise darauf, dass seine Erinnerung nicht mit dem übereinstimmt, was tatsächlich geschehen ist.
"Sicherlich trägt dieselbe aufgewühlte Gemütsverfassung dazu bei, dass mir, denke ich heute an jenen Abend zurück, viele Aspekte irgendwie übertrüben oder unnatürlich erscheint. Versuche ich zum Beispiel heute, mir den Raum vorzustellen, so ist er ungewöhnlich dunkel; und dies trotz der Wandlampen, der Kerzen auf den Tischen und der Lüster über uns - nichts scheint die vorherrschende Dunkelheit beeindrucken zu können." (22)
Verwirrung herrscht auch bei den Leser*innen, was teilweise mit der assoziativen Erzählweise zusammenhängt. Ankerpunkte sind die 7 Teile, die jeweils datiert sind. Der Ich-Erzähler berichtet, was jeweils bis zu diesem Zeitpunkt geschehen ist. Während er seine Erlebnisse wiedergibt, deutet er voraus, blickt zurück, relativiert seine Erinnerungen - da fällt es manchmal schwer den Überblick zu wahren.
Die ersten beiden Teile spielen im Jahr 1930 und 1931, im Mittelpunkt stehen Kindheitserinnerungen und seine Bekanntschaft mit Sarah Hemmings, eine Dame der Gesellschaft, die auf der Suche nach einem Mann ist, "der wirklich seinen Beitrag leistet. Ich meine für die Menschheit, für eine bessere Welt." (69)
Bezeichnenderweise nutzt sie Banks aus, um auf einem gesellschaftlich hochrangigen Empfang eingelassen zu werden. Eine sehr komische Szene...
Im 3.Teil, der 1937 spielt, taucht plötzlich eine Jennifer auf, die bisher keine Rolle gespielt hat - das ist so ein Moment, in dem man zurückblättert und denkt: "Habe ich etwas verpasst?" - Nein, die Verwirrung ist gewollt und führt uns auf die Spur, das wir diesem Erzähler nicht trauen dürfen.
Die Teile 4-6 (1937) führen Banks nach langer Ermittlungsarbeit von London aus zurück nach Shanghai, wo er endlich seine Eltern zu finden gedenkt - wie kann er sich sicher sein, dass sie nach all der Zeit noch leben? - und wieder auf Sarah Hemmings trifft, die in einer unglücklichen Ehe gefangen scheint. Ein Umstand, den unser Protagonist ebenfalls verkennt, genau wie die politische Situation. Es herrscht Krieg zwischen Japanern und Chinesen, während die alte Kolonialmacht ignorant an den bestehenden Verhältnissen festzuhalten scheint und sich für unverletzbar hält.
Und unser Protagonist? Er gerät zwischen die Fronten, ohne sich davon beeindrucken zu lassen.
Die kafkaesk anmutenden Szenen - ein Häuserkampf in einem chinesischen Ghetto - haben zu kontroversen Diskussionen in unserem Lesekreis geführt. Können wir dem Protagonisten glauben? Ist das alles eine Wahnvorstellung? Fantasie? Warum konfrontiert uns der Ich-Erzähler mit diesem unglaublichen Leid, das detailliert geschildert wird? Und was hat Banks diesem Leid entgegenzusetzen, außer seinem kindlichen Glauben, wenn er seine Eltern fände, würde sich alles zum Guten wenden? Ishiguro konfrontiert uns mit unserer eigenen Ignoranz, das, was wir nicht sehen wollen, mit dem Elend, das der Krieg verursacht - kein Zufall, das Banks sich die Verletzungen einer Frau mit der Lupe ansieht...
Man ahnt, dass Banks diesen Fall nicht alleine wird lösen können und an seiner zerstörten Kindheit scheitert.
Ishiguro hat nach seinen Romanfiguren befragt - folgende Antwort gegeben:
"Viele von uns sind
gezwungen, ihr Leben auf etwas zu gründen, was in seinem Wesen brüchig oder
schon zerstört ist, etwas, das eigentlich repariert werden müßte, aber dazu ist
es bereits zu spät. Und in gewissem Sinn ist alles, was man dann in seinem Leben
auch tut, nur der Versuch, sich über diese Zerstörung irgendwie
hinwegzutrösten.“
Ein Roman, der zu vielfältigen Interpretationen und Diskussionen einlädt, und - da waren wir geteilter Meinung - mit einer wunderbaren Sprache aus verschachtelten Sätzen -garniert mit Gedankenstrichen - , die ineinander fließen und uns umgarnen.