Sonntag, 27. Dezember 2015

Dave Eggers: Der Circle

Eine Dystopie über eine Welt, in der alle vollkommen gläsern werden sollen.


Vorne weg
Ich weiß, dass Dystopien zur Zeit den Literaturmarkt überschwemmen und es schwierig ist, immer noch eine weitere - gute zu finden. Aber ich glaube, dass Der Circle diesem Anspruch gerecht wird. Der Roman zeigt wie auf der Rückseite angekündigt eine "Schöne neue Welt" reloaded. Eine Welt, in der eine Firma - Circle - alles über uns permanent speichert, so dass keinerlei Informationen mehr verloren gehen. Eine Welt, in der alle miteinander vernetzt sind und sich über Smiles und Frowns definieren.
Ein Roman, der mich bewegt hat, der aber auch zum Nachdenken anregt, das Smartphone oder Tablet oder den Laptop auszuschalten.


Inhalt
Die 24-jährige Mae Holland hat mittels ihrer Studienfreundin Annie eine Stelle bei der angesagtesten Firma der Welt "Cirlce" in der Customer Experience (Kundenservice) erhalten. Aus ihrer personalen Erzählperspektive wird der Roman erzählt.
Circle ist ein 
"freundlicher Internetkonzern mit Sitz in Kalifornien, der die Geschäftsfelder von Google, Apple, Facebook und Twitter geschluckt hat, indem er alle Kunden mit einer einzigen Internetidentität ausstattet, über die einfach alles abgewickelt werden kann." (Klappentext)

Dadurch sind alle Internetidentitäten nun eins und es gibt keine Anonymität mehr im Netz, es gibt nur noch die TruYou, deine wahre Identität.

"Jedes Mal, wenn du irgendwas sehen, irgendwas benutzen, irgendwas kommentieren oder irgendwas kaufen wolltest, genügte ein Button, ein Konto, alles war miteinander verknüpft und rückverfolgbar und simpel, und alles funktionierte per Handy oder Laptop, Tablet oder Netzhaut." (S.31)


Mae ist total begeistert vom Unternehmen, das auch gleichzeitig für eine entsprechende Krankenversicherung sorgt, Vorsorgeuntersuchungen 14tägig durchführt, wobei alle Vitalfunktionen ständig überwacht und natürlich gespeichert werden. Daneben wird erwartet, dass man permanent am sozialen Leben der Firma teilhat, sei es an kulturellen Veranstaltungen, Festen, Parties, Sportevents oder eben in den sozialen Netzwerken der Firma, in denen man Zings verschickt, Smiles oder Frowns und möglichst zu allem seinen Kommentar hinterlassen soll, um gut im PartizipationsRanking der Firma dazustehen - und um nicht nachdenken zu müssen über diese letztlich totalitären Strukturen.
So hat Mae neben ihrem Bildschirm, der die Kundenfragen bearbeitet, einen, mit dem sie permanent mit ihrem Vorgesetzten verbunden ist, der alle ihre Schritte sehen kann, und noch einen Bildschirm, über den die sozialen Nachrichten innerhalb und außerhalb des Circle sieht.  Zu lesen, wie sie alles gleichzeitig managt, fand ich schon ziemlich stressig - und ein Ausblenden der sozialen Nachrichten wird innerhalb der Firma sofort sanktioniert.
Sämtliche Apps und Tools der Firma zielen darauf ab, das einzelne Individuum vollständig zu entschlüsseln, alle Informationen werden gespeichert und sind jederzeit von jedem verfügbar. Es gibt unter anderem auch ein Tool namens LuvLuv, das alle Vorlieben deines Dates herausfindet. Geforscht wird an TrueYouth: Kinder schlucken als Säugling einen Chip, so dass ihr Aufenthaltsort jederzeit bestimmbar ist. So sollen Entführungen und Verbrechen verhindern werden, nebenbei hat man die lieben Kleinen immer unter Kontrolle.
Privatspähre in diesem Sinne existiert fast nicht mehr. Francis, Maes Freund, filmt sogar eine prekäre Situation und sofort wird das Video in die Cloud hochgeladen und er weigert es sich zu löschen, worauf Mae die "Beziehung" beendet, sie war ohnehin nicht wirklich in ihn verliebt.
Statt dessen lernt sie den geheimnisvollen Kalden kennen, dessen Nachnamen sie nicht kennt und den sie trotz der Transparenz im Circle einfach nicht ausfindig machen kann. Er ist nach ihren Treffen immer unerreichbar und spielt im weiteren Verlauf noch eine wichtige Rolle.
Im 2.Teil des Romans geht es um die Vollendung des Kreises, der auch auf dem Buchcover, das gleichzeitig das Logo der Firma zeigt, zu sehen ist. Der Circle soll das ganze Leben umfassen, dabei kommt Mae eine entscheidende Funktion zu.
Das Horrorszenario einer gläsernen Welt, in der alle alles wissen können und partizipieren müssen, die keinerlei Privatsphäre mehr ermöglicht, wird im Verlauf des Romans auf die Spitze getrieben und endet in einem glaubwürdigen Finale.

Bewertung
Ich finde den Roman erschreckend realistisch oder wie es in einem Kommentar heißt:
"Überall meint man Spuren der Fiktion in der Wirklichkeit zu sehen." (Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)
Es gibt im Roman einen Dialog zwischen Mae und ihrem Exfreund Mercer, der sich weigert, den Hype um Circle gutzuheißen und seine selbst gefertigten Kronleuchter aus Hirschgeweihen entsprechend zu vermarkten:
"Ich sag dir jetzt was, und es schmerzt mich, dir das sagen zu müssen. Aber du bist nicht mehr sehr interessant. Du sitzt zwölf Stunden pro Tag an einem Schreibtisch, und dabei kommt nichts anderers rum als ein paar Zahlen, die in einer Woche nicht mehr existieren oder in Vergessenheit geraten sind. Du hinterlässt keine Spuren. Es gibt keinen Beweis dafür, dass du gelebt hast." (S.298)
Mit dieser Aussage bringt es Mercer auf den Punkt. Was ist das für ein Leben, in dem sich alles darum dreht, welchen Partizipationsplatz (PartRank) man innerhalb des Circle hat, wieviel von den Produkten verkauft werden, die man selbst "zingt" und positiv bewertet (Conversion-Rate) und welchen Geldwert man so erwirtschaftet hat. In der der Mensch letztlich nur noch aus Zahlen zusammengesetzt ist und die Individualität selbst keine Rolle mehr spielt.
Außerdem gibt es keinerlei Privatsphäre mehr. Als sich Mae kurzfristig enschließt zu kajaken, wird sie von einer SeeChange-Kamera erfasst und von der Polizei festgenommen, es gibt keine Rückzugsmöglichkeiten mehr und ständig ist Mae gezwungen zu posten, zu partizipieren - um nicht nachzudenken. Es ist ein durch und durch virtuelles Leben ohne echtes Erlebnis mehr - was für ein Alptraum!

Ich muss zugeben, dass mich diese Welt zunehmend angewidert hat, v.a. im 2.Buch, als Mae innerhalb der Firma eine besondere Aufgabe zuteil wird. Ich will nicht zu viel verraten, aber ich hoffe, dass es in der realen Welt noch genügend Stimmen gegen eine solche Vereinnahmung eines einzelnen Menschen gäbe. Zumindest zeigt der Roman auf, wohin es führt, wenn das Recht auf freie Meinungsäußerung und auf Privatssphäre von einem Konzern vernichtet werden.
Schwachpunkt des Romans ist ausgerechnet die Identifikationsfigur Mae, deren Handlungs- und Verhaltensweisen nicht immer nachvollziehbar sind. So hat sie durchaus das Potential zu einer Rebellin und bricht auch das ein oder andere Mal aus der ihr zugedachten Rolle aus, letztlich unterwirft sie sich aber dem System. Ihre Motivation sich total vereinnahmen zu lassen, hätte meines Erachtens noch deutlicher zum Ausdruck kommen können. Natürlich überzeugen sie die idealistischen und rhetorisch geschickt aufgebauten Argumente eines der Circle-Gründer, aber auch ihr Wunsch gesehen zu werden und nach Anerkennung führen zu ihrer Entscheidung, gläsern zu werden. Das Finale hingegen ist glaubwürdig, da die Entwicklung Maes konsequent zu Ende geführt wird.

Insgesamt ein absolut lesenswerter und ein sehr wichtiger Roman, der auf die Literaturlisten der Schulen gehört!

Buchdaten
Taschenbuch: 560 Seiten
Verlag: KiWi-Taschenbuch
Erschienen am: 8. Oktober 2015
ISBN-13: 978-3462048544
Originaltitel: The Circle
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